Kindergeschichte(n)

Tante Hilde hat Paul mit ins Museum genommen. Jetzt stehen sie vor einem alten Bild, auf dem ein Mann abgebildet ist.

Links neben ihm steht ein Pferd. Auf der anderen Seite ist ein Turm zu sehen. "Mensch, sehen die aber platt aus", ruft Paul und lacht. Tante Hilde schaut sich ängstlich um, ob das auch ja keiner keiner gehört hat. "Aber Paul", sagt sie streng, "so etwas kann man doch nicht sagen. Auf dem Bild ist niemand platt." Paul bleibt dabei. "Der Mann und das Pferd sind doch platt. Sie haben gar keinen richtigen Körper. Und der Turm steht in Wirklichkeit sicher auch weiter weg." Jetzt hat Tante Hilde verstanden. "Du meinst, das Bild hat keine Perspektive." Genau. Tatsächlich bestehen gemalte und gezeichnete Bilder lediglich aus einer Fläche, bei der es nur oben und unten, links und rechts gibt. Alles, was dort abgebildet ist, hat die gleiche Entfernung zum Betrachter. Die Perspektive ist der Trick, mit dem Maler und Zeichner erreichen, dass die Dinge und Personen auf ihren Bildern dem Betrachter näher oder ferner erscheinen, dass ein Raum wie ein Raum aussieht und Tiere und Menschen Körper haben. Dabei nutzen Künstler, was das menschliche Auge in der Wirklichkeit sieht. Wer zum Beispiel mit den Augen einer Straße folgt, hat das Gefühl, dass ihre parallelen Ränder in der Ferne zusammenlaufen. Soll ein Baum auf einem Bild so aussehen, als ob er weit weg ist, lässt der Maler dorthin zwei Linien zusammenlaufen. Wenn wir das sehen, folgert unser Gehirn messerscharf, dass der Baum in der Ferne steht. Auch, dass wir Türme als Körper oder Räume erkennen, erreicht man über schräg verlaufende Linien. Sie verursachen, dass zum Beispiel der hintere Rand eines Zimmerbodens weiter weg erscheint als der vordere. Weshalb wir davon ausgehen, dass dazwischen ein Raum liegt. Den Eindruck von Ferne kann man aber auch über die Größe erzeugen. Jeder weiß, dass dieselben Dinge und Personen unseren Augen größer erscheinen, wenn sie in der Nähe stehen. Sehen wir auf einem Bild eine Reihe Bäume, die immer kleiner werden, gehen wir davon aus, dass der Abstand zu den hinteren Bäumen größer ist. Den Eindruck von Nähe und Ferne kann man zudem über Farben erzeugen. Kalte Farben wie Blau erscheinen uns weiter weg als warme wie Orange. Damit Menschen Formen bekommen, spielen Hell und Dunkel eine große Rolle. Die Perspektive ist also nichts anderes als eine Täuschung, die darauf beruht, dass wir unsere natürliche Seherfahrung automatisch auf Bilder übertragen, wenn wir sie anschauen. Erst seit etwa 600 Jahren benutzen Maler in Europa die Perspektive. Vorher sahen die Menschen, Tiere und Häuser darauf wie Flächen aus, eben platt. So unrecht hat Paul also gar nicht. Eva-Maria Reuther

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