König von Deutschland, verkanntes Genie

Er war der erste, der die deutsche Sprache mit Rockmusik verband, und er wurde nur 46 Jahre alt: Am 20. August 1996 starb Rio Reiser, Rockmusiker, Schauspieler, Anarchist, Hit-Schreiber. Nach einem Leben auf Messers Schneide, mit unglaublichen Höhen und Tiefen. Heute empfinden ihn erstaunlich viele jüngere deutschsprachige Bands als Vorbild und Ideengeber.

Berlin. Als Udo Lindenberg vor ein paar Wochen seinen 65. Geburtstag feierte, versäumte kaum ein Gratulant oder Feuilletonist, auf seine Rolle als Pionier der deutschsprachigen Rockmusik zu verweisen. Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn im August 1971, zwei Jahre vor Udos "Andrea Doria", erschien die erste LP der Band Ton Steine Scherben, mit einem wilden jungen Mann als Sänger, der unzweifelhaft deutsche Texte grölte wie "Macht kaputt was euch kaputt macht" oder "Ich will nicht werden, was mein Vater ist".
Seine Lieder werden zu Hymnen


Der rebellische Junge, der das Lebensgefühl einer ganzen Generation in seine kurzen, heftigen Textzeilen quetschte, hieß damals noch ganz bürgerlich Ralph Möbius - seinen Künstlernamen Rio Reiser legte er sich später für seine erste Spielfilm-Hauptrolle zu. Ein Auftritt neben Jimi Hendrix beim Fehmarn-Open-Air hatte der Band 1970 einen legendären Ruf beschert - nicht zuletzt, weil das aufgeputschte Publikum die Parolen der Liedertexte ernst nahm und das Festivalgelände in seine Einzelteile zerlegte.
Rio Reisers Auftritte waren politische Agitation, die Scherben-Lieder wurden zu Hymnen. In Berlin, wo die Band lebte, pflegte jedes ihrer Konzerte mit einer Hausbesetzung zu enden. Doch die antiautoritäre Szene ertrug keine Helden: Als Rio und seine Band versuchten, von ihrer Musik zu leben, wurden sie als Kommerz-Jünger gegeißelt. Reiser zog sich auf einen Hof in Friesland zurück. Eine Revival-Tour Mitte der 80er - übrigens mit Auftritt an der Trierer Uni- fand volle Säle, endete aber mit einem finanziellen Debakel.
Es begann das zweite Leben des Rio Reiser. Seine kreative Kraft und sein sprachlicher Ideenreichtum flossen nun in locker produzierte, massenwirksame, radio-kompatible Musik. Mit "König von Deutschland" oder "Alles Lüge" landete er im Gefolge der Neuen Deutschen Welle regelrechte Hits. Dass seine sarkastischen, kritischen Texte dabei zur Fußnote wurden, machte ihm ebenso zu schaffen wie die mit dem Ruhm verbundenen Nebenwirkungen: Endlose PR-Touren bei Radiostationen, Fernsehshows, Interviews. Begleitet vom Hass mancher alter Weggefährten, für die Erfolg gleich Verrat war. Und von der Ignoranz der Musik-Geschichtsschreiber, die den braven Udo Lindenberg auf den Schild des Deutsch-Rock-Erfinders hoben. Dazu kamen die gesundheitlichen Folgen eines Lebens, das kaum etwas an Rauschmitteln ausgelassen hatte.
Aber zum Glück gab es auch junge Musiker, die genauer hinsahen und -hörten, die ein Faible entwickelten für Reisers Melancholie, für die Schönheit seiner Sprache, für die Kraft der Balladen. Und als sie ein paar Jahre später selbst ganz oben waren, machten sie keinen Hehl daraus, dass Rio Reiser für die Entwicklung einer ganzen Szene enorm wichtig war.
Coversongs von aktuellen Bands


Jan Delay und Kettcar, Fettes Brot und Xavier Naidoo, Echt und Silly, Anett Louisan und Christina Stürmer, Ich&Ich und Wir sind Helden: Alle haben Reiser-Songs gecovert, Tribute-Konzerte gespielt, ihre Verbundenheit mit dem Künstler bekundet, der auf einem Berliner Friedhof begraben ist. 40 Jahre nach der ersten Deutschrock-Platte dringt Reisers Bedeutung langsam durch. "Er hat die deutsche Sprache für Rockmusiker singbar gemacht", sagt der Trierer Sänger Michael Kiessling.
Er muss es wissen, denn er war mit der Original-Scherben-Besetzung jahrelang auf Tour, in jener Rolle, die einst Rio Reiser innehatte. Ein "verkanntes Genie" sei er gewesen, mit einer "einzigartigen Lyrik" und der Fähigkeit, sich "radikal zu entäußern". Er eroberte das Publikum, und das Publikum fraß ihn auf. So etwas bleibe "auch für die nächste Künstlergeneration faszinierend". Freilich sei Reiser auch eine tragische Figur, glaubt Michael Kiessling: "Er wollte eigentlich immer nur ein deutscher Mick Jagger sein. Aber das hat er nicht geschafft."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort