Literatur-Wettbewerb Julius Gerlach: Auf dem Weg ins Kino

Literaturwettbewerb von Volksfreund und Dieter-Lintz-Stiftung: Gewinner der Kategorie „unter 20 Jahre“ ist Julius Gerlach aus Konz mit „Auf dem Weg ins Kino“. Hier gibt es seine Erzählung zum Nachlesen:

„Das muss ich erst mal sacken lassen.“ (Erste Reaktion von Julius Gerlach, nachdem er von seinem Sieg erfahren hat. Für den Wettbewerb ließ er sich als Reiter auf einem Schaukelpferd fotografieren.)

„Das muss ich erst mal sacken lassen.“ (Erste Reaktion von Julius Gerlach, nachdem er von seinem Sieg erfahren hat. Für den Wettbewerb ließ er sich als Reiter auf einem Schaukelpferd fotografieren.)

Foto: Julius Gerlach

Ich bin auf dem Weg ins Kino, blicke flüchtig nach links zur Bushaltestelle und sehe neben dem Schild mein jüngeres Ich stehen.

Das soll nicht heißen, dass ich eine Person sehe, die so aussieht wie ich vor einigen Jahren; nein, es ist mein jüngeres Ich. Daran besteht kein Zweifel. Ich sehe ihn an und weiß genau, dass ich es bin. Ich weiß es einfach. Als würde man in den Spiegel gucken. Nur, dass das Spiegelbild mich nicht ansieht. Und mir nur bedingt ähnlich sieht. Wenn ich es recht bedenke, ist es überhaupt nicht so, als würde man in den Spiegel gucken. Vielleicht ist es eher so, als würde man ein bekanntes Gesicht in einer Menschenmenge entdecken – nur, dass dieses Gesicht mein eigenes, wenn auch jüngeres, ist. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber in mir entsteht ein Gefühl der absoluten Gewissheit. Diese Gewissheit ist weder süß noch bitter, sie ist einfach da. Ich weiß nichts damit anzufangen, als festzustellen, dass ich mich gerade selber betrachte.

Die Ampel vor mir wird grün, ich bleibe stehen.

Soll ich zu ihm hingehen? Wird er mich erkennen? Er wird es wohl. Und selbst wenn nicht, ich weiß Dinge über ihn, mit denen ich ihm beweisen kann, dass ich niemand anders sein kann als er selbst. Wie wird er auf mich, das heißt, auf sich selbst reagieren? Neugier, Schock, Unverständnis?

Ich habe oft an dieser Bushaltestelle gestanden und gewartet, bis der pünktliche Bus verspätet und überfüllt die Straße hinuntertuckert. Wahrscheinlich ist er, wie immer, in Gedanken. So wie ich ihn, so wie ich mich kenne, wird sein, mein, unser Blick auch die nächsten Minuten auf den unbeweglichen Asphalt der Straße gerichtet sein. Wenn ich weitergehe, wird er nie wissen, dass ich hier war.

Aber ich kann diese Gelegenheit doch nicht auslassen. Ich kann doch nicht einfach gehen. Irgendetwas muss ich ihm doch sagen können, das ihn weiterbringen wird.

Mein erster Gedanke ist, dass ich ihm diese dumme Eselsbrücke für den Sinus, Cosinus und Tangens sagen soll, dann wird er in der Mathe-HÜ, die er wohl demnächst schreiben wird, deutlich besser abschneiden und sich deutlich weniger blamieren.

Mein zweiter Gedanke sagt mir, ich soll ihm etwas raten, das ihm Geld bringt. Die Lottozahlen habe ich nicht im Kopf, aber Aktien scheinen mir wie eine passable Idee.

Investiere in Amazon – wobei, das kannst du dir wahrscheinlich nicht leisten. Mir rauschen ganze Listen an aufstrebenden Firmen durch den Kopf, auf deren Aktienkurse er wetten sollte. Damit könnte er sicherlich ein Vermögen machen.

Mein dritter Gedanke ist der erste, der etwas durchdachter ist. Ich frage mich, was ich mir wünsche. Was hätte ich damals anders gemacht? Mehr Zeit mit meinem todkranken Hund verbracht? Mehr für die Schule gelernt? Vielleicht sollte ich ihm einfach sagen, dass er mehr Sport machen soll. Ja, das klingt gut. Wenn er zweimal die Woche Sport macht und sich gesund ernährt, wird er in meinem Alter fitter sein und nicht von 15 Minuten Stehen Rückenschmerzen haben.

Die Ampel vor mir wird zum zweiten Mal grün, ich bleibe immer noch stehen.

Irgendetwas sagt mir, dass ich nicht zu lange mit ihm reden sollte. Er wird wahrscheinlich viel wissen wollen, aber ich will ihm nichts vorwegnehmen. Außerdem weiß ich nicht, wie es sich auf das Raum-Zeit-Kontinuum auswirken wird, wenn ein Jemand mit seinem jüngeren Ich ein Gespräch führt. Wahrscheinlich sollte ich nichts riskieren. In meinem Kopf entsteht eine Szene. Ich laufe zu ihm hin, tippe ihm auf die Schulter und schaue ihm in die Augen. Er weiß sofort, wer ich bin. Ich flüstere ihm zu, er soll zweimal die Woche Sport machen, so bald wie möglich Geld in Pfizer und BioNTech stecken und mehr Fotos von seinem Hund machen. Danach werde ich rennen, weit weg – ich bin sowieso schneller als er, ich bin älter und er hat einen komplett überfüllten Ranzen auf dem Rücken. Er wird geschockt stehenbleiben, sich aber der Ernsthaftigkeit dieser Vorschläge bewusst sein und sich daran halten. Dann wird er irgendwann ein besseres Leben haben als ich.

Die Ampel wird zum dritten Mal grün und ich merke, dass mich die Raucher vor dem Kino komisch angucken, schließlich starre ich seit einigen Minuten die Bushaltestelle an. Er wird ein besseres Leben haben? Ein anderes auf jeden Fall. Ein gänzlich anderes. Wenn er mehr Sport macht, wird er weniger Zeit für Sachen haben, die ihm vielleicht lieber sind. Vielleicht wird er das Ganze nur aus Vertrauen zu seinem älteren, weiserem Ich machen und hoffen, dass es sich bewahrheitet.

Aber wenn er das tut, wird er nicht mehr ich sein. Wenn ich mir selbst diesen Ratschlag gebe, dann beginne ich seine Entwicklung zu einem völlig neuen Menschen, der zwar auf mir aufbaut, aber nicht ich selbst bin. Dieser Mensch hat vielleicht manche meiner Freunde nie getroffen, dieser Mensch hat vielleicht sogar völlig andere Interessen und Hobbys. Dieser Mensch wird irgendwann nicht mehr viel mit mir zu tun haben. Wer bin ich, mir selbst zu sagen, ich solle nicht mehr ich selbst sein? Weiß ich es wirklich besser? Und wenn er dann in einigen Jahren ins Kino geht und sein jüngeres Ich an einer Bushaltestelle stehen sieht, was wird er ihm sagen? Wird er überhaupt ins Kino gehen oder etwas völlig anders machen? Wie wird dieser Mensch sein? Was wird dieser Mensch denken? Wer wird dieser Mensch sein? Ich kann es nicht sagen. Ich will es nicht wissen. Ich will ich sein.

Als die Ampel vor mir nun schon zum vierten Mal grün wird, gehe ich auf die andere Seite, ziehe, währenddessen die Kapuze hoch und blicke auf den Boden, damit ein flüchtiger Beobachter mich nicht von schräg hinten erkennt. Ich beschleunige meinen Schritt und denke an nichts, auf dem Weg ins Kino.

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