Jahrestag der Katastrophe Geschichte einer Loveparade-Überlebenden: „Ich hielt ihre Hand, als sie starb“

Interaktiv | Duisburg · Vor elf Jahren entgeht die 19-Jährige Ann-Kathrin Ulbrich bei der Loveparade in Duisburg um Zentimeter dem Tod. Ein Mädchen, das neben ihr liegt, kommt ums Leben – wie 20 andere Menschen. Im TV erzählt Ulbrich ihre Geschichte zum ersten Mal öffentlich.

Loveparade-Unglück mit Jahrestag: Eine Überlebende erzählt
Foto: picture alliance/dpa/Daniel Naupold

Ann-Kathrin Ulbrich liegt auf dem Bauch. Menschen stehen auf ihrem Körper. Wie viele? Unmöglich zu beantworten. Es gibt kaum einen Zentimeter, kaum ein Körperteil, das innerhalb der letzten Minuten nicht mit Füßen bedeckt war. Neben ihr liegt ein Mädchen, die beiden halten sich an den Händen. Jemand steigt auf den Hals des Mädchens. Ann-Kathrin Ulbrich versucht, ihre Leidensgenossin wegzuziehen, dem Stehenden ins Bein zu kneifen. Irgendwas, das das Mädchen retten könnte. Vergeblich. Ann-Kathin Ulbrich überlebt die Loveparade 2010, das andere Mädchen nicht.

Vor elf Jahren, am 24. Juli 2010, ist Ann-Kathrin Ulbrich 19 Jahre alt. Was sie und Tausende andere Menschen am alten Güterbahnhof in Duisburg erleben, wird sie nie vergessen. 21 Menschen verlieren bei einer Massenpanik, die in einem Tunnel entsteht, ihr Leben. 541 – darunter auch Ann-Kathrin Ulbrich – werden verletzt.

Dem TV erzählt die heute 29-Jährige ihre Geschichte – zum ersten Mal überhaupt gegenüber einer Zeitung. Eine Reise zurück ins Duisburg von 2010. Lesen Sie, hören Sie sich die Geschichte in Audio-O-Tönen an und klicken Sie sich durch 360-Grad-Aufnahmen der Schauplätze.

Die Vorgeschichte: Seit einigen Jahren spielen Ann-Kathrin Ulbrich und eine Freundin mit dem Gedanken, zur Loveparade zu fahren. Doch irgendwie funktioniert es nie. Mal hat die eine keine Zeit, dann kommt der anderen etwas dazwischen. Und so sitzt die 19-Jährige aus Würselen auch am 24. Juli 2010 alleine in ihrer Wohnung. Gegen Mittag sieht sie in einer Fernsehsendung, dass die Loveparade begonnen hat.

Sie ruft ihre Freundin an: „Komm, wir wollten da doch immer mal hin“, sagt sie. Immerhin findet das Event, das 1989 in Berlin entstand, diesmal nur eine Stunde entfernt, in Duisburg statt. Aber ihre Freundin kann nicht mitfahren, sie muss zu ihrer Großmutter. Zufällig trifft Ann-Kathrin Ulbrich auf zwei weitere Freundinnen. Sie haben Zeit. Wenig später sitzen die drei Frauen im Auto gen Duisburg.

Sie parken das Auto außerhalb der Stadt, fahren mit dem Zug zum Hauptbahnhof und machen sich auf in Richtung Festivalgelände. Auf dem Weg dorthin müssen sie durch den Tunnel, in dem die Katastrophe später entstehen wird. Die Frauen gehen eine Route, die von den Besucherströmen abweicht, sie kennen sich nicht aus. Am Tunneleingang angekommen ist es voll, aber die Menge bewegt sich durch die Dunkelheit des Tunnels. Erst als sie an einer Kante vor dem Aufgang zur Rampe, die aus dem Tunnel herausführt ankommen, geht nichts mehr.

Die Katastrophe: Zunächst stehen die Würseler Frauen nur. Es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig, so eng sind sie an andere Menschen gepresst. Doch dann passiert etwas, das Ann-Kathrin Ulbrich so beschreibt: „Es fühlte sich an, als würde ein Bulldozer die gesamte Menge anschieben. Man musste laufen, hatte keine Chance stehenzubleiben.“

Es ist der Moment, als eine am Eingang zum Tunnel gebildete Polizeikette durchbrochen wird. Die Menge wird in Richtung der Rampe gedrückt, die aus dem Tunnel herausführt. Ann-Kathrin Ulbrich verliert in diesem Moment den Kontakt zu ihren Freundinnen. „Wie von einem Strudel im Wasser“ wird sie an die Seite gespült. Nun wird es dramatisch, denn die 1,57 Meter große Frau steckt fest. Es geht nicht mehr voran, Menschen drücken, drängen, pressen auf die Rampe. In wellenartigen Bewegungen erhöht sich der Druck.

So stark, dass Ulbrich im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verliert. Sie ist so eng an andere Besucher gedrängt, dass sie zwischen deren Körpern in der Luft hängt. Ihren Arm heben? Unmöglich. Sonstige Bewegungen? Unmöglich. So absurd es klingt: Die Spannung bewahrt sie davor, auf den Boden zu rutschen.

Nicht lange. Denn mit jeder Welle, jedem Eindringen neuer Besucher auf die Rampe, verliert sie mehr und mehr an Halt. Bis sie irgendwann auf den staubigen Untergrund rutscht – und auf dem Boden liegt. Ohne Chance, sich aus dieser Lage zu befreien.

Nach einigen Versuchen versteht die 19-Jährige, dass es kein Entkommen aus dieser Situation gibt. Sie ändert die Taktik, versucht ihre wichtigsten Organe zu schützen. Auch wenn immer mehr Menschen auf ihr stehen: Schmerzen fühlt sie keine – dafür ist sie zu adrenalingeladen.

Dunkelheit umgibt Ulbrich. Die Menschendecke ist so dicht, dass die Sonne sie nicht durchdringt. Auch die Geräusche, die an der Oberfläche entstehen, hört Ulbrich nicht. Sie fühlt sich, als würde sie tauchen. Lediglich das, was auf dem Boden passiert, nimmt sie wahr. Sie ist sich bewusst, dass ihr junges Leben jede Sekunde enden kann. Dazu fehlen Zentimeter, ein falscher Schritt einer der Personen, die auf ihr stehen. In dieser ausweglosen Situation wird sie auf das Mädchen aufmerksam, das neben ihr liegt.

 Tausende Raver drängen sich auf der Loveparade in und vor dem Tunnel in Duisburg, in dem sich eine Massenpanik ereignet hat.

Tausende Raver drängen sich auf der Loveparade in und vor dem Tunnel in Duisburg, in dem sich eine Massenpanik ereignet hat.

Foto: dpa/Erik Wiffers

Das Mädchen ist panisch. Ann-Kathrin Ulbrich nimmt ihre Hand, redet mit ihr. Bis heute kann sie sich nicht erklären, wieso ihr einziger Gedanke damals darum kreist, diesem Mädchen die Panik zu nehmen. In einer Situation, in der sie selbst den Tod vor Augen hat.

Es folgt dieser eine falsche Schritt eines Besuchers. Er tritt auf den Hals des Mädchens, wie oben beschrieben versucht Ulbrich zu helfen, oder ihn darauf aufmerksam zu machen, wo er steht. Doch sie selbst bezeichnet das als Utopie. Das Mädchen stirbt. „Ich hielt ihre Hand, als sie starb. Aber ich mache niemandem einen Vorwurf, der auf einem Menschen gestanden hat“, sagt Ann-Kathrin Ulbrich heute, „niemand hatte eine Chance, sich zu bewegen.“

Plötzlich verbessert sich die Situation. Ohne zu sehen, was oben passiert, bemerkt Ann-Kathrin Ulbrich, dass sich etwas bewegt. Immer mehr Menschen verlassen die Rampe. Innerhalb von Minuten kann sie aufstehen und das Gelände verlassen. Bei dem Blick auf die Stelle, an der sie noch wenige Minuten zuvor lag, wird ihr bewusst, welche Ausmaße die Katastrophe hat.

Und wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod in diesem Moment ist. „Hätte ich 20 Zentimeter weiter rechts gelegen, dann hätte es mich erwischt“. Die 19-Jährige wird in ein Krankenhaus gefahren. Auf dem Weg dorthin fühlt sie sich wie in einem Film, wenn eine Bombe explodiert ist. Nach all dem Lärm, den sie wie unter Wasser wahrgenommen hat, erscheint die Stille jetzt erdrückend.

Quetschungen, Schürfwunden, Prellungen: Ulbrich trägt viele Verletzungen davon. Doch die physischen Wunden heilen. Was schlimmer ist und bleibt, sind die psychischen Verletzungen. Auch wenn sie lebt, dieser Tag verändert ihr Leben.

 Mit einer Schwerpunktseite berichtete der Trierische Volksfreund 2010 über das Unglück bei der Loveparade.

Mit einer Schwerpunktseite berichtete der Trierische Volksfreund 2010 über das Unglück bei der Loveparade.

Foto: TV

Das Leben danach: Zur Zeit der Katastrophe absolviert Ann-Kathrin Ulbrich ein Jahrespraktikum in einem Kindergarten. Viele Kids, Schreie und rennende Menschen: All das kann sie nicht mehr ertragen. Sie wird ein Dreivierteljahr lang krankgeschrieben und möchte zunächst auch mit niemandem über das Erlebte sprechen, sondern es lieber mit sich selbst ausmachen. In einer 20-Quadratmeter-Wohnung, nur vom Kindergeld lebend.

Anderen Betroffenen geht es ganz genau so. Zum Beispiel Nicole Ballhause. Sie ist damals Mitarbeiterin einer Sicherheitsfirma, heute Sprecherin der Betroffenen, die sich zum Verein Lopa 2010 e.V. zusammengeschlossen haben.

Seit diesem Tag im Juli 2010, an dem sie an der Einlasskontrolle Glasflaschen konfisziert, lässt sie ein Erlebnis nicht los: „So stelle ich mir Krieg vor. Ich habe damals zu Leuten gesagt: ‚Geht in den Tunnel, von dort kommt ihr auf die Rampe, da seid ihr sicher’. Auch wenn mir niemand die Schuld hab, ich fühlte mich verantwortlich für den Tod von 21 Menschen.“

Wie sie zehn Jahre später im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt, wollte (oder konnte) sie danach mit niemandem über das Erlebte sprechen. Erst als sie am ersten Jahrestag der Katastrophe in das Duisburger Stadion zu einer Trauerfeier fährt, ändert sich das. Zunächst jedoch hat sie Angst: „Ich dachte, die Eltern lynchen mich, wenn ich dort hin komme. Ich war Teil des Sicherheitsdienstes, hatte damals das Gefühl, mitschuldig zu sein.“

Doch auf der Trauerfeier trifft sie auf den Vater eines Opfers. Er bedankt sich. „Wofür das denn?“, fragt Ballhause. „Sie haben unser Kind zugedeckt, vor Gaffern geschützt. Dafür danke ich Ihnen.“ Das werde sie nie vergessen, erklärt sie. Später wird Nicole Ballhause klar, dass sie andere unterstützen muss, um sich selbst zu helfen. „Jeder muss das anders verarbeiten. Ich habe mir gesagt, dass ich den 21 Opfern nicht helfen konnte, also muss ich es bei den anderen tun.“

Eine dieser „anderen“ ist Ann-Kathrin Ulbrich. Auch sie fährt zur Trauerfeier am Jahrestag und beginnt, das Erlebte zu verarbeiten: „Ich konnte nicht mehr denken: ‚Was wäre wenn?’ Ich lebe, also muss ich aus diesem Leben das Beste machen.“ Das bedeutet in ihrem Fall, dass sie verheiratet ist, drei Kinder hat und als Rettungsassistentin für das Leben anderer kämpft.

Ein ehrenamtliches Seelsorgerpaar ist rund um die Uhr, seit zehn Jahren, für die Betroffenen da. Das schweißt zusammen. Aus den Leidensgenossen dieses Tages in Duisburg sind Freunde geworden. „Ich habe dadurch Menschen kennengelernt, die ich sonst nie getroffen hätte“, sagt Ann-Kathrin Ulbrich. Zur Geburt ihrer beiden Mädchen gratuliert ihr Nicole Ballhause beispielsweise. Nach Ballhauses Bandscheiben-Operation reist Ann-Kathrin Ulbrich zum Überraschungsbesuch ins Krankenhaus. „Die anderen Betroffenen sind meine Drei-Tages-Familie“, sagt Nicole Ballhause, „wir sehen uns immer nur um den Jahrestag herum, aber dann gibt es auch viele lustige und schöne Momente.“

Ein Punkt, an dem sich Ulbrich und Ballhause einig sind. Kein Therapeut kann das ersetzen, was sie gegenseitig für sich tun. Sie sagen: „Wir sind gegenseitig die besten Therapeuten.“ Ein Punkt, an dem sich Ulbrich und Ballhause einig sind. Kein Therapeut kann das ersetzen, was sie gegenseitig für sich tun. Sie sagen: „Wir sind gegenseitig die besten Therapeuten.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort