Mehr als Denkmalpflege

TRIER. Unter dem Motto "Alles was Brecht ist" lud das Trierer Theater zu einer Matinee mit Texten, Liedern und Gedichten von Deutschlands wichtigstem Autor des 20. Jahrhunderts. "Wir wollen wieder neugierig auf Brecht machen", sagte Intendant Weber zur Eröffnung.

Es scheint Bertolt Brechts Schicksal zu sein, dass man ihn unterschätzt. Immerhin ist er der nach Shakespeare meistgespielte Stückeschreiber der Welt, sind viele seiner Songs Welthits geworden, hat er kaum weniger lexikonfähige Zitate produziert als Goethe oder Schiller. Und doch tun sich viele schwer damit, ihm seinen Platz unter den Klassikern zuzugestehen. Da passt es, dass das Trierer Theater bei seiner Brecht-Matinee offenbar nur mit halb so vielen Besuchern gerechnet hatte wie dann tatsächlich am Sonntagmorgen kamen. So konnte man, während die Bläser der "Reed Bulls" das Programm mit einem raffinierten Dreigroschenoper-Medley bereits eröffneten, einen Intendanten, drei Dramaturgen und diverse Bühnenarbeiter mit Bergen von Stühlen minutenlang durchs Foyer wieseln sehen. Ein Verfremdungs-Effekt, an dem das Objekt der Veranstaltung fraglos seinen Spaß gehabt hätte. "Alles was Brecht ist" - von diesem ehrgeizigen Anspruch rückte Gerhard Weber gleich zu Beginn ab. Es wäre wohl auch ein bisschen viel verlangt gewesen für eine Zwei-Stunden-Matinee. Und doch lieferte das Schauspielensemble ein außergewöhnlich breites Spektrum Brecht'scher Aspekte ab und bot damit dem Publikum die Chance, sich dem Mythos Brecht anzunähern. Fast verstörend die Kontraste: Die zarte poetische Kraft eines Gedichtes wie "Die Liebenden", berührend rezitiert von Claudia Felix. Und gleich danach das jede Gefühligkeit brutal zerreißende "Über die Verführung von Engeln", dessen derber Wortschatz beim Vortrag von Alexander Ourth einige ältere Herrschaften in teeniehaftes Peinlichkeits-Gickeln ausbrechen ließ. Brecht, der Berserker, Brecht, der Sensible, Brecht, der Analytiker, Brecht, der Schwärmer, Brecht, der Zyniker, Brecht, der Unerbittliche, Brecht, der Spaßvogel (na ja, der kam etwas zu kurz): Kaum zu fassen, wie das alles in einen Kopf und in ein Gemüt passt. Und immer wieder seine erstaunliche, zeitlose Aktualität. "Wenn die Haifische Menschen wären", entstanden 1948, beschreibt präzise gesellschaftliche Funktionsweisen von unveränderter, trauriger Gültigkeit. Das "Lied von der belebenden Wirkung des Geldes" ist im Hartz-IV-Land zeitgemäßer denn je. Aber die ausgewählten Lieder und Texte zeigten auch immer wieder, dass Brecht nicht primär die Menschen kritisierte, sondern die Verhältnisse, die ihnen unmenschliche Verhaltensweisen aufzwingen.Die Schlüsse bleiben dem Publikum überlassen

Das Matinee-Programm enthielt sich einer Wertung, überließ dem Publikum selbst die Schlüsse. Aber manches packte die Besucher denn doch mehr als anderes. Klaus-Michael Nix' Bilbao-Song beispielsweise, Michael Ophelders "Erinnerung an die Marie D." oder das illusionslose "Und was bekam des Soldaten Weib?" von Claudia Felix. Vieles war eher arrangiert als inszeniert, durchaus angemessen für eine solche Matinee. Aber gerade die Szenen, in deren Umsetzung Herzblut, Pfiff und Ideen investiert wurden (ein aufschlussreicher Dialog über Brechts Anti-Illusionstheater und ein spaßiges Anekdoten-Gespräch zwischen Bühnentechnikern) blieben am stärksten im Gedächtnis haften. Die Mission, neugierig zu machen auf Brecht, das radikale, kompromisslose, widersprüchliche Genie, gelang mehr als überzeugend. Wie schön, dass es in Trier ein Theater gibt, das sich solch luxuriöse Zugaben außerhalb des Standardprogramms leisten kann.

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