Meilensteine menschlicher Grausamkeiten

LUXEMBURG. Blutige politische Machtspiele beschreibt William Shakespeare in "Titus Andronicus". Heiner Müller hat in seinem "Shakespearekommentar" einen anderen Schwerpunkt gesetzt: die Eroberung der ersten durch die dritte Welt.

Ein Mordsstück. Mit 35 Toten ist es Shakespeares leichenreichstes. Ein finsteres, etwas akademisch-dröges Frühwerk des nachmaligen Meisters, plakativ in der Schilderung von politischen Konflikten und Rankünen zwischen Römern und Goten; ganz und gar jakobinisch in seiner Rachsucht, seinen Tötungs- und Verstümmelungsorgien. Und doch auch Furcht erregend aktuell in seiner Blutrünstigkeit, die nach dem ersten Schreckensdatum des neuen Jahrtausends, dem 11. September 2001, vor vier Tagen in Madrid einen neuen Höhepunkt erreichte. Denn um nichts anderes geht es in "Titus Andronicus": den Zusammenprall der Kulturen, den Krieg der Dritten gegen die Erste Welt. Auf diesen Aspekt kam es Heiner Müller an in seiner Bearbeitung "Anatomie Titus - Fall of Rome: Ein Shakespearekommentar". 1985, bei der Bochumer Uraufführung, dauerte das Stück noch rund vier Stunden. Johan Simons hat es für seine Fassung der Münchner Kammerspiele auf gut 90 pausenlose Minuten gekürzt und einen weiteren Meilenstein in der Geschichte menschlicher Grausamkeiten zum Aufhänger genommen: den Überfall tschetschenischer Geiselnehmer auf das Moskauer Musical-Theater "Nord-Ost" im Oktober 2002, bei dem 130 Opfer zu beklagen waren. Die Bühne (Bert Neumann) ist ein Zuschauerraum; der Zuschauerraum ist Bühne. Noch der Theatervorplatz wird ins Spiel mit einbezogen: Da lungern zwei merkwürdige Gestalten, die per Videokamera auf zwei Leinwände im Bühnenhintergrund projiziert werden, auf dem noch unfertigen und ziemlich zugigen Areal - wenigstens einmal zeigt sich die Sinnhaftigkeit des Unvollendeten - vor dem Eingang des Grand Théâtre in Luxemburg und wärmen sich an einem Feuer. Später erobern sie den Theaterraum: Die Goten sind da, und sie denken nicht daran, das neu errungene Territorium wieder gegen die Pennerbleibe im Freien einzutauschen. Simons bedient sich aus dem Müller/Shakespeare-Text wie aus einem Baukasten, der angefüllt ist mit Elementen menschlicher Verhaltensweisen in Extremsituationen. Und weil dies mit klarem Verstand nicht zu ertragen wäre, ohne in den Wahnsinn zu verfallen, ist seine Inszenierung auch ein Traumspiel: Wie aus tiefem Schlaf erwacht, recken die Akteure die Glieder, stammeln sich in einen Satzanfang, verlieren den Faden, beginnen erneut und tasten sich - hier verwischen die Grenzen von Spiel und Realität - allmählich in ihre Rolle.Der Horror ist nur als Komik zu ertragen

Dabei entstehen Momente von grotesker Komik. Wenn etwa Gotenkönigin Tamora (Marion Breckwoldt als rassiges Exotenweib im Zigeunerlook; Kostüme: Nina von Mechow) ihrem frisch zum Staatsoberhaupt gekrönten Lover Saturnin genervt versichert, dass er tatsächlich Kaiser ist. Matthias Bundschuh spielt den Regenten als nervöses Hemd angesichts der neuen Verantwortung. Wenn Lavinia, die frisch Verstümmelte und Vergewaltigte, sich mit einem hastigen "Tschuldigung" durch die Sitzreihen zwängt wie eine verspätete Theaterbesucherin- mit nervöser Nonchalance verkörpert von Nina Kunzendorf. Oder wenn André Jung in der Titelrolle, als Hobbykoch mit Edelstahlpfanne bewehrt, zum Höhepunkt seiner Rache Tamoras Söhne zum Ragout verarbeitet, der Mutter auftischt und sie mit freundlicher Beiläufigkeit zum Essen auffordert. Schließlich Paul Herwig als Lucius, Titus‘ verstoßener Sohn, der bei den Goten an- heuert und als deren Heerführer heim ins Reich zieht, um die Mischpoke auszurotten: Das selbstzufriedene Grinsen klebt ihm auch dann noch im Gesicht, als ihm die Goten eröffnen, dass sie nicht mehr nach Haus zurückkehren werden. Die Tragweite dieses Entschlusses liegt jenseits seiner Ver- ständnisgrenzen. Nur der "Entertainer" (Wolfgang Pregler) weiß, dass dies alles kein Traum ist. Doch wer glaubt schon dem Pro- pheten eine Reihe weiter hinten? Wohl wahr: Kein leichtes Spiel hat der Zuschauer mit diesem Kabinett der Grausamkeiten, die in bester schwarzhumoriger Tradition mit durchweg beeindruckender Schauspielkunst präsentiert werden. An ihr wenigstens konnte sich delektieren, wer ohne vorherige Lektüre zumindest einer Zusammenfassung des Stückes gekommen war und daher ein wenig überfordert gewesen sein mochte von diesem Mordssstück mit 35 Toten. Und dennoch: Shakespeares Theater der Brutalitäten bleibt weit hinter der Wirklichkeit zurück.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort