Mein literarischer (Anti)held

Winnetou, Harry Potter oder James Bond - die Literatur hat viele Helden hervorgebracht. Aber: Nicht immer sind es die Hauptfiguren oder die "Guten", die uns in ihren Bann ziehen.

In der Literaturkolumne "Mein literarischer (Anti)Held" schreiben TV-Redakteure über ihre ganz persönlichen Helden und Antihelden. Heute: Hannibal Lecter aus "Das Schweigen der Lämmer". Als Heldin in Thomas Harris‘ Thriller "Das Schweigen der Lämmer" (1988) drängt sie sich förmlich auf: Clarice Starling, angehende FBI-Agentin, die dem inhaftierten Kannibalen Dr. Hannibal Lecter gegenübertritt und dank dessen Hinweisen den Serienmörder Buffalo Bill zur Strecke bringt. Lecter selbst kommt einem da weniger in den Sinn. Der Psychiater, der in einer Klinik für geistesgestörte Straftäter einsitzt, weil er Patienten getötet und Teile von ihnen zum Dinner verspeist hat. Und doch ist es vor allem diese Figur, die dem Roman zu weltweitem Erfolg verholfen hat, die Millionen Leser abstößt - und zugleich fasziniert. Viel dazu beigetragen hat Anthony Hopkins‘ oscargekrönte Darstellung Lecters im Kinofilm von 1991. Aber schon die Romanfigur hat es in sich. Ohne Zweifel sind Lecters Taten abscheulich. Und unheimlich. Wenn er mordet, steigt sein Puls nicht über 85. Aber er ist kein simpler, triebgesteuerter Killer. Lecter ist höflich, hochintelligent, hat Stil und Humor. Wenn er den Flötisten des Orchesters nach dem Konzert verspeist, weil dessen Spiel seine Musikalität beleidigt hat, jagt das dem Leser Schauer über den Rücken - eine heimliche Bewunderung kann er sich aber kaum verkneifen. Denn, Gitterstäbe und Beißschutzmaske hin oder her, Lecter ist stets Herr der Lage. Bei FBI-Schülerin Starling, die ihn zur Mitarbeit im Fall Buffalo Bill bewegen soll, genügt ihm ein einziger Blick auf ihre "billigen Schuhe", um auf ihre einfache Herkunft und verzweifelte Suche nach Anerkennung zu schließen. Ohne Mühe entlockt er Starling ihre Ängste und Traumata, wie das Schlachten der Lämmer, das sie als Kind mit anhören musste. Lecter manipuliert sie, treibt sein Spiel mit dem FBI, ist immer einen Schritt voraus. Und während Starling Buffalo Bill jagt, bereitet Lecter ohne Hast seinen spektakulären Ausbruch vor - den endgültigen Beweis seiner Überlegenheit. Überlegen und charmant - so zeigt er sich auch zum Abschied. Er wolle Clarice nicht aufsuchen, schreibt er ihr, "da die Welt interessanter ist mit Ihnen darin". Und bittet höflich: "Haben Sie die Güte, mir die gleiche Liebenswürdigkeit zu erweisen." Mal ehrlich - wer hat Lecter ernsthaft in seine Zelle zurückgewünscht? Christa Weber

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