Mensch... Norbert Walter!

Wissen Sie eigentlich, was der Unterschied zwischen Ihnen und dem Orakel von Delphi ist? Nein, nicht die Treffer-Quote, die war in beiden Fällen mäßig. Ganz einfach: Das Orakel von Delphi legte im Winter drei Monate Weissagungspause ein, während ihre Prognosen ganzjährig abrufbar sind und mit der Regelmäßigkeit einer tibetanischen Gebetsmühle auf das gemeine Volk herniederprasseln.



Als Chef-Volkswirt der Deutschen Bank besetzen sie derzeit die Rolle der Kassandra so gut wie kein zweiter. Mindestens fünf, sechs Prozent, womöglich mehr, werde die deutsche Wirtschaft 2009 schrumpfen, so ihr aktuelles Wirtschafts-Horoskop von dieser Woche. Im Dezember 2008, also vor der heißen Büttenredner-Session, deuteten sie die Sterne am Himmel der Ökonomie noch dahingehend, dass es ein Nullwachstum geben könne, schlimmstenfalls aber vier Prozent Minus. Und noch vor Jahresfrist spuckte ihre Kristallkugel die Vorhersage aus, es werde gar keinen dramatischen Abschwung der Weltwirtschaft geben.

Also mal ganz ehrlich: Früher bei den alten Griechen und Römern hielt man sich Orakel-Priester, damit sie in die Zukunft schauen sollten - und nicht, damit sie alle vier Wochen unter Berücksichtigung der neuesten Entwicklung ihre Prophezeiung korrigieren oder einmal per anno ins Gegenteil verkehren. Zu Ödipus' oder Neros Zeiten hätte ich mir um ihren Kopf ernste Sorgen gemacht.

Aber wir sind ja human in der Neuzeit. Da wird jemand, der montags eine Abwrackprämie für Kühlschränke fordert, dienstags die Verschwendung öffentlicher Mittel kritisiert, mittwochs die Verstaatlichung von Banken absegnet, donnerstags den Staat zur Zurückhaltung auffordert, freitags vor Schwarzsehern warnt und samstags rabenschwarzen Pessimismus verbreitet, nicht wegen notorischer Volksverwirrung angeprangert, sondern als "Vordenker des Jahres" ausgezeichnet.

Sie seien wie ein Espresso: klein, stark und schwarz, sollen Sie mal über sich gesagt haben. Kann es sein, dass Sie aus dem Satz dieses Kaffee-Konzentrats Ihre Weisheiten beziehen? Das würde manches erklären.

Seien wir gerecht: Mit manchen Prognosen haben Sie ja recht behalten - solange sie nix mit Wirtschaft zu tun hatten. Im Jahr 2000 sagten sie voraus, Deutschland werde binnen zehn Jahren von einer Frau regiert. Gratuliere! Vielleicht sollten Sie es auch mit Fußballergebnissen und Eurovision-Song-Contest-Resultaten versuchen. Da gibt's sicher eine Marktnische.

Dieter Lintz

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