mensch…

Herzlichen Glückwunsch zum Literatur-Nobelpreis. Ich kann zu Ihrem literarischen Werk leider wenig sagen, weil ich noch keines Ihrer Bücher gelesen habe.

Das ist mein Fehler, nicht Ihrer - wir Europäer sind da manchmal ein bisschen zu sehr auf unsere eigene Welt fixiert. Aber bei Ihnen ist das anders. Ich werde auch in absehbarer Zukunft kein Buch von Ihnen lesen. Weil ich nämlich nicht die geringste Lust habe, mich mit Werken von Autoren zu beschäftigen, die der Meinung sind, ein bisschen Zensur habe noch keinem geschadet. Dass man Menschen das Schreiben und Publizieren verbietet, weil die Formen oder Inhalte einem Staat nicht passen, ist ein Skandal - völlig egal, wo es passiert. Wenn aber Menschen, die als Schriftsteller selbst von und mit der Freiheit des Wortes leben, die Zensur für andere, missliebige Kollegen mit der Sicherheitskontrolle am Flughafen vergleichen, ist das erbärmlich. Ich warte jetzt darauf, dass der nächste Physik-Nobelpreisträger erklärt, ein bisschen Inquisition sei für die Wissenschaft zwar lästig, aber gar nicht so schlimm. Als Sie gewählt wurden, dachte ich nach der weltweiten Kritik an dem "Staatsschriftsteller Mo Yan": So einäugig, wie die Kritiker vermuten lassen, kann die Jury doch gar nicht gewesen sein. Nachdem Sie sich nun geweigert haben, auch nur ein winziges Zeichen der Solidarität mit Ihrem inhaftierten Nobelpreis-Kollegen und Landsmann Liu Xiabao zu setzen, muss ich annehmen, die Nobelpreis-Juroren seien nicht nur einäugig, sondern blind. Nein, es gibt keine Verpflichtung, dass Literaturnobelpreisträger Widerstandskämpfer sein müssen. Sie müssen nicht mal politisch sein. Aber als Rechtfertigungskünstler einer Diktatur sollten sie sich nun auch nicht missbrauchen lassen. Wenn es dieser Tage irgendwo auf der Welt ganz tief im Boden rumpelt: Es würde mich nicht wundern. Es könnte daran liegen, dass sich Camus und Sartre, Nelly Sachs und Nagib Mahfuz, Solschenizyn und Octavio Paz, Heinrich Böll und Pablo Neruda im Grab herumdrehen angesichts des Neuzugangs in ihren Reihen. Und dass Herta Müller, die weiß, was Zensur bedeutet, nicht mitrotiert, liegt nur daran, dass sie zum Glück noch lebt. Dieter Lintz Die Kolumnen-Sammlung "Mensch ..." von Dieter Lintz kann für 12,80 Euro versandkostenfrei auf www.volksfreund-shop.de oder per Telefon unter 0651/7199-997 bestellt werden. Sie ist auch im Buchhandel erhältlich.

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