Menschen am Rande des Zusammenbruchs

Er wolle "den Leuten in angenehmer Form eher predigen als sie unterhalten", schrieb Francis Scott Fitzgerald 1939 an seine Tochter Scottie. Aber die Leute wollten keine Predigten hören, sie wollten "die üblichen Liebesgeschichten über arme junge Männer, die um reiche Töchter werben, Storys voller Partys, Glamour und aufmüpfiger Backfische", notiert Anne Margaret Daniel, die Herausgeberin eben jener Fitzgerald-Kurzgeschichten, die damals, in den 1930er Jahren, kein Verleger und keine Zeitschrift druckten und deren "Neuentdeckung" kürzlich als "literarische Sensation" gefeiert wurde.

Menschen am Rande des Zusammenbruchs
Foto: (g_kultur

Das Publikum jener Dekade freilich, das aus dem Rausch des "Jazz Age" aufgewacht war und sich unversehens in der tristen Realität der Depression wiederfand, wollte von diesen melancholischen, düsteren Geschichten mit ihren desillusionierten und depressiven Charakteren - enttäuschten Liebhabern, sitzengeblieben Mädchen, talentlosen Schauspielerinnen, arbeitslosen Drehbuchautoren, einsamen Großstadtmenschen und Insassen von Irrenanstalten - nichts wissen.
"Du schreibst nicht, weil du etwas sagen möchtest - du schreibst, weil du etwas zu sagen hast." Auch das ist eine der Aussagen F. Scott Fitzgeralds, die wie eine Verteidigungsrede für seine späten Werke klingen; Werke, die auch deshalb von den Verlagen abgelehnt wurden, weil sie am Rand des Skandalträchtigen entlang schrammten: Männer, die sich bei fragwürdigen Frauen Geschlechtskrankheiten eingefangen oder sechzehnjährige Mädchen geschwängert hatten, waren nicht der Stoff, den amerikanische Leser(-innen) zu goutieren wussten.
Die Kurzgeschichten, jetzt unter dem Titel "Für dich würde ich sterben" veröffentlicht, entstanden zu einer Zeit, in der sich Fitzgeralds Gesundheitszustand rapide verschlechterte und die Aufenthalte seiner Frau Zelda in psychiatrischen Einrichtungen immer länger und teurer wurden. Die düstere Grundnote der Shortstorys, die in einer Nervenheilanstalt spielen ("Böser Traum"), von Menschen unterwegs erzählen und damit von Möglichkeiten, die in der Regel mit einer Enttäuschung enden ("Zusammen unterwegs") oder den Selbstmord als literarisches Sujet behandeln ("Für dich würde ich sterben"), schreckten sämtliche Verleger ab. Der Text sei "so merkwürdig", begründete die Zeitschrift New Yorker ihre Ablehnung von "Danke für das Feuer" mit einer Handlungsreisenden in Damenunterwäsche als Protagonistin, "so ganz anders als das, was wir mit Fitzgerald verbinden".
Fast 80 Jahre nach Fitzgeralds Tod hat die Nachwelt nun Gelegenheit, diese "merkwürdigen" Geschichten kennenzulernen - und einen Autor, der, wenn man genauer hinschaut, die Abgründe und dunklen Seiten der glitzernden Zwanziger Jahre auch in seinen Meisterwerken "Der große Gatsby" oder "Zärtlich ist die Nacht" niemals ausgespart hat. In diesen späten Kurzgeschichten treten diese Abgründe nun mit aller Deutlichkeit hervor.
Rainer Nolden
F. Scott Fitzgerald, "Für dich würde ich sterben", aus dem Amerikanischen von Gregor Runge u. a., hrsg, und kommentiert von Anne Margaret Daniel, Hoffmann und Campe, 492 Seiten, 19,99 Euro.

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