Michael Kernbachs Kolumne: Auflösungserscheinungen

An einem verschneiten Winterabend, es ist schon viele Jahre her, gab mir ein ziemlich schlauer Kopf zu ziemlich später Stunde mit zugegebenermaßen schon ziemlich schwerer Zunge eine Erkenntnis mit auf den Weg, durch die ich die Welt mit neuen Augen sehen lernte: "Das Leben", sagte ich zu mir, "das Leben ist wie Fußball!" Genauer gesagt: Wie Profifußball. Ich meine: Gottlob ist das Leben in den meisten Fällen länger als 90 Minuten und endet fast nie mit Elfmeter-Schießen, trotzdem - oder gerade deshalb - eignet sich der Mikrokosmos der bezahlten Balltreter ganz famos als Brennglas, um sich und anderen die Läufte der Zeit anschaulich zu machen. Sie ahnen, was kommt? Genau - die "No Angels" haben sich aufgelöst! Und zwar letzten Samstag, kurz nach dem sportlichen Insolvenzantrag unserer Fußball-Nationalmannschaft und dem dazugehörigen Umkleidekabinen- Sprachkursus ihres Insolvenz- Verwalters Rudi Völler. Ich behaupte natürlich nicht, dass die "No Angels" aus Scham ob des einen oder anderen Auftrittes die Segel gestrichen haben: Dafür hat diese Truppe selber zu viele hochnotpeinliche Auftritte in der Öffentlichkeit absolviert. Atemberaubend ist in diesem Fall wieder die Zustands-Äquivalenz von Kultur und Fußballspiel. Betrachten wir es doch mal so: 1954, die 11 dreckverschmierten "Geister von Bern". Diese Jungs waren doch das genaue Abbild von Nachkriegsdeutschland - so wie die deutschen Nationalteams ‘72 bis ‘74 ihre Zeit perfekt repräsentierten: Eleganz, gepaart mit geschmacklosen Frisuren - und mit einem etwas formschöneren Gebiss wäre ein Spieler wie Günther Netzer anstandslos als Rockstar durchgegangen. Was das alles mit dem "No Angels"-Abschied 2003 zu tun haben soll? Ganz einfach: Die "No Angels" waren eine zusammengecastete Legionärstruppe mit hohem Ausländeranteil - das kennt man doch irgendwo her... Sie haben einen Haufen Kohle für bestenfalls durchschnittliche Leistung kassiert, sind deshalb mit Mitte 20 finanziell unabhängig und müssen sich den ganzen Terz nicht mehr antun. Dass mir da keiner böse ist, wenn ich da spontan an Fußball und an die Boomzeiten des "Neuen Marktes" denke... Nur: die "No Angels" und der "Neue Markt" sind diesmal insbesondere unserer Nationalmannschaft um einen Schritt voraus : Die beiden haben sich - mehr oder weniger - freiwillig aufgelöst! Und da könnten sich unsere Jungs endlich mal sogar an so was wie den "No Angels" ein Vorbild nehmen! Nie wieder Länderspiel!

Michael Kernbachs Kolumne: Auflösungserscheinungen
Foto: privat
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