Mit Atombomben auf Gänseblümchen

Straßburg · Die Dokumentation "Duell ums Weiße Haus" zeichnet die spektakulärsten US-Wahlkämpfe seit 1960 nach - und findet sich in einem Widerstreit zwischen trügerischen Werbebildern und der Kritik an diesen.

Straßburg. Der Moment für diese Dokumentation ist gut gewählt: Wenige Tage, bevor sich das aktuelle "Duell ums Weiße Haus" vorerst entscheidet, zeigt ARTE an diesem Dienstag (1. November) um 22.20 Uhr (bis 23.50 Uhr) eine gleichnamige Bestandsaufnahme aus mehr als 50 Jahren - voll mit Schlammschlachten, Paradigmenwechseln und ebenso genialen wie fiesen Tricks.
Wenn Ingo Helms Film also genau zur rechten Zeit kommt, so zeigt er sich gleichzeitig erstaunlich blind für diese Aktualität. Sicher, eine Arbeit von 90 Minuten ist kein Nachrichtenbeitrag; entsprechend träge lässt sich auf gerade erst eskalierende Entwicklungen reagieren. Dass aber kaum eine Minute vergeht, bis vom Weißen Haus als Sitz des "mächtigsten Mannes der Welt" die Rede ist - das ist mindestens eine unglückliche Wortwahl.
Sei's drum: Hillary Clinton, die natürlich als First Lady und betrogene Ehefrau auftritt, und wohl vor allem Donald Trump wird jeder im Kopf haben, der die Dokumentation sieht und glaubt, so unseriös, so schmutzig, so sensationsgeil und oberflächlich sei es noch nie zugegangen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Ingo Helm hat sich tief in die Archive gegraben und belegt das Gegenteil.
Seine Beweisführung beginnt im Jahr 1960, als John F. Kennedy und Richard Nixon sich das erste Fernsehduell der Geschichte lieferten und der junge Demokrat als Sieger hervorging: aus dem Duell, aus dem Wahlkampf und aus der - wenn man Helms Interviewpartnern glaubt - alles entscheidenden Schlacht um die Temperaturregler im Studio. Nixon geriet ganz buchstäblich leicht ins Schwitzen. Spätestens da ebnete das immer noch junge Medium Fernsehen einer neuen Oberflächlichkeit den Weg.
Polemik und Unterstellungen?


1964, als Lyndon B. Johnson gegen den Republikaner Barry Goldwater antrat, warb ein wahrhaft erschütternder Spot für den Amtsinhaber: Ein kleines Mädchen zupft die Blütenblätter eines Gänseblümchens ab, ihr Zählen geht über in den Countdown für einen Raketenabschuss, aus der Großaufnahme ihres Auges wird ein Atompilz. Johnson gewann die Wahl haushoch gegen Goldwater, den er derart als außenpolitischen Scharfmacher hingestellt hatte. Die Inszenierung von Authentizität und scheinbarer Bodenständigkeit nahm spätestens 1976 ihren Anfang, als Jimmy Carter sich als Erdnussfarmer und Mann des Volkes gegen das - durch die Watergate-Affäre diskreditierte - Establishment von Washington in Stellung brachte. Bill Clinton erfand 1990 mit "It's the economy, stupid" den monothematischen Wahlkampf; Barack Obama nutzte als Erster effektiv die neuen Medien zu seinem Vorteil. All dies ist nicht unbedingt neu.
Die größte Stärke von Helms Dokumentation liegt in der intensiven Recherche, im akribischen Zusammentragen von Bewegtbildern aus fünf Jahrzehnten. Diese Materialfülle lässt leicht übersehen, dass dessen Aufbereitung an sich ausgesprochen konventionell ist: Archivbilder und Interviews, die Helm mit Wahlkampfmanagern und Journalisten geführt hat, wechseln einander ab. Aus der altbacken erscheinenden Abfolge von "talking heads" und Archivmaterial wird aber auch ein Widerstreit des mächtigen Bildes mit seiner kritischen Interpretation.

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