Musik erzählt Geschichte

Trier · Es war nur scheinbar ein neutrales Festprogramm. Am letzten Tag des Jahres erzählten die Kompositionen im Silvesterkonzert von vergangenen Ereignissen und künstlerischen Absichten. Der "Cantus" von Arvo Pärt war mehr: eine überzeugende, inhaltsreiche Zukunftsvision. Bei den Besuchern in der voll besetzten Trierer Kirche St. Paulin verbanden sich Begeisterung und Nachdenklichkeit.

Musik erzählt Geschichte
Foto: Martin Dr. Möller (mö) ("TV-Upload Dr. M?ller"

Trier. Es grummelt bei den Pauken. Und dann beschwören sie mit Wucht die Katastrophe. In Georg Philipp Telemanns "Donnerode" hallt das Erdbeben von Lissabon von 1755 nach. Das verursachte auch im europäischen Geistesleben Erschütterungen und löste neue Diskussionen über das Theodizee-Problem aus ("Warum konnte ein gütiger Gott das zulassen?"). Telemann und sein Textautor Johann Andreas Cramer indes biegen die katastrophale Botschaft um ins Positive. Die "Donnerode" ist ein erhabenes, ein ehrfürchtiges Werk, ein Niederknien vor Gottes Allmacht.
Volker Krebs, das Basilika orchester und der Basilikachor St. Paulin fanden dafür genau den passenden Tonfall. Bei ihnen klang das Wuchtige, Gewaltige in Telemanns Komposition mit, aber auch das Humane, das Anschauliche und Aufklärerische seiner Tonsprache. Krebs, seine Sänger und Instrumentalisten distanzierten sich von allem barocken Schwulst. Der Chor glänzte mit Gradlinigkeit, Deutlichkeit und Energie. Der Instrumentalsatz war klar und transparent. Auch das vorzügliche Solistenensemble (Sabine Zimmermann und Nicole Tamburro, Sopran, Christine Wehler, Alt, Martin Steffan, Tenor, Christoph Kögel und Bardo Michaelis, Bass) entfaltete Telemanns fließende und ungezwungene Melodik. Es ist Musik als "Nachahmung der Natur". So, wie die Aufklärer es wollten.
Und dann Bach. Größer könnte der Unterschied zwischen den miteinander befreundeten Komponisten kaum mehr sein. Wo Telemann die Menschen erreichen will, setzt Bach in seinem rund 30 Jahre älteren "Magnificat" entschieden und beinahe rücksichtslos auf musikalische Professionalisierung. Was mögen wohl die Thomas-Schüler gedacht haben angesichts einer Komposition, die ganz auf das Instrumentalensemble mit Startrompeter Johann Gottfried Reiche zugeschnitten war und die Sänger damals mit Sicherheit überforderte? Verständlich, dass auch bei Volker Krebs, seinem Chor und den Solisten Reste an Unbewältigtem blieben. Während die Instrumentalisten auch in ihren Soli vom Reichtum der Partitur profitierten, legte sich über die Gesangskoloraturen im Chor eine Art Weichzeichner, und beim Gloria mit seiner wunderbar aufsteigenden Melodielinie haperte es bei der Intonation. Immerhin: Die Solisten bewältigten ihre heiklen Partien mit Anstand, der eingesprungene Christoph Kögel liefert seine Bass-Arie "Quia fecit" sogar mit Bravour ab. Insgesamt war es wohl eine Art Arbeitsteilung. Während der Festglanz von den Instrumenten kam, war die Empfindungstiefe bei den Sängerinnen und Sängern zu Hause. Vielleicht hatte sich Bach so etwas vorgestellt. Jedenfalls hat er im "Magnificat" seine professionellen Kapellmeister-Erfahrungen ins ehrwürdige Thomaskantorat übertragen - sicherlich nicht zur Freude aller Beteiligten, aber doch mit eindeutigem Zukunftspotenzial.
Zwischen Telemann und Bach entfaltete sich einige bedeutsame Minuten lang eine Musik meditativer Gegenwart und visionärer Zukunft. Volker Krebs hat in einer mutigen Entscheidung Arvo Pärts "Cantus in Memoriam Benjamin Britten" ins Programm aufgenommen. Es ist eine Musik, die nach innen geht, die nicht auf Beschleunigung setzt, sondern auf Tiefe und Eingedenken. Mag sein, dass das Instrumental-Ensemble die Klangreinheit noch nicht ganz erreichte, die Pärt im "Cantus" vorzeichnete. Aber das gedankenreich Kreiselnde dieser Komposition mit ihrer komplizierten Kanontechnik war bei den Musikern in besten Händen. Wie ein Symbol die immer wieder eingestreuten Klänge der Glocke - einfach und vollkommen zugleich. Im Jahreswechsel ist diese Musik am rechten Platz. Sie birgt in schwieriger Zeit die Hoffnung auf eine bessere, eine humane Zukunft.

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