Muttersöhnchen kämpft sich frei

Happy End auf der Bühne, Happy End im Zuschauersaal: Choreograph Sven Grützmacher bescherte seinem gequälten Helden Siegfried einen märchenhaft-glücklichen Schluss, und das Publikum bescherte dem Trierer Tanztheater einen weiteren Triumph.

 Tschaikowsky ungewohnt, aber treffend – Sven Grützmacher inszeniert ohne Lametta.TV-Foto: Friedemann Vetter

Tschaikowsky ungewohnt, aber treffend – Sven Grützmacher inszeniert ohne Lametta.TV-Foto: Friedemann Vetter

Trier. Mama ist an allem schuld. Jedenfalls bei Siegfried, dem Muttersöhnchen mit der albtraumhaften Alten und dem schwächelnden Vater. Gemeinsam mit ihrem Liebhaber Rotbart, dem dämonischen Zeremonienmeister der Spaß- und Giergesellschaft, will sie dem romantischen Jungen die Flausen austreiben, ihn abrichten für das "Erwachsenen-Leben". Doch der flieht lieber in die weiße Traumwelt, wo er mit Odette eine zärtliche Freundin findet.

Schwanensee ohne neckische Schwänchen



Was, das ist doch gar nicht Original-Schwanensee? Gemach. Sicher: Es ist nicht das, was man seit ewig kennt, mit neckisch tänzelnden Schwänchen, prächtigen Hof-Festen und Helden in Strumpfhosen. Aber letzteres ist auch alles andere als das Original, das seit über 100 Jahren nicht mehr aufgeführt worden ist: eine freie Interpretation, mit veränderter Partitur und neu erfundenen Figuren.

Sven Grützmacher setzt also nur fort, was andere vor ihm getan haben: Tschaikowskys Tanz-Musik auf ihre Bedeutung für die heutige Welt zu untersuchen. Er tut das ohne modernistischen Schnickschnack, ohne Provokationen, ohne Verrätselungen, fast schon plakativ.

Und doch liegt er näher an Tschaikowskys Melancholie, an seinem Weltschmerz als all die Show-Ballette mit 50 synchronen Spitzentänzerinnen in dressierter Schwanen-Pose.

Rotbart, der böse Zauberer, lässt hier zwar keine Schwäne tanzen, aber dafür die Puppen, zu denen er alle seine "Untergebenen" degradiert. Die Mutter ist zwar keine Prinzessin, aber eine herrische Königin der Nacht. Und das Hin- und Hergerrissensein von Jung-Siegfried zwischen seiner romantischen Idylle und der bitteren Realität ist Tschaikowsky pur, nur ohne Lametta.

Gerd Hoffmann und - was für ein Name - Arlette Schwanenberg haben ein Bühnenbild entworfen, das von einer mächtigen Skulptur dominiert wird, die halb Schwanengefieder, halb Caspar David Friedrichs Eisberg zu sein scheint. Claudia Caséras Kostüme spielen mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast der Welten, dem sie raffinierte Zwischentöne abgewinnen.

Grützmachers Bewegungsrepertoire meidet Klischees, sucht klare Botschaften, bisweilen auch mit einem Schuss Ironie. Das Ensemble (Natalia Griniuc, Juliana Hlawati, Hannah Ma, Corinna Siewert, Denis Burda, Reveriano Camil) findet immer wieder schöne Bilder für Gemütszustände vom tiefen Empfinden bis zur Flüchtigkeit.

René Klötzers Siegfried: Zunächst eine Studie der Verstörung, mit zwanghaft-neurotischen Abwehrreaktionen, dann maßlos in seiner Liebe und seinem Schmerz. Zitternd vor Glück, bebend vor Zorn, verkrampft in der Verzweiflung - Tanz-Theater im besten Sinn des Wortes, so dargeboten, dass es keinen kalt lässt.

Enorme Leistung der Trierer Truppe



David Scherzer tanzt einen Rotbart von beängstigender körperlicher Präsenz, Erin Kavanaugh spielt die Mutter am Rande der Karikatur, aber mit feinem Gespür dafür, die Grenze nicht zu überschreiten. Noala de Aquino verleiht dem Vater trotz aller Unterdrückung einen Rest an Würde, und Susanne Wessel rührt als Odette mit ihrer Zerbrechlichkeit. Alles in allem eine enorme Leistung der kleinen Trierer Truppe.

Das steckt auch das Orchester an. Da wird nicht "einfach mal so Ballett gespielt" - Valtteri Rauhalammi und die Philharmoniker gehen die Sache so beherzt, kraftvoll und konzentriert an, als handele es sich um ein Sinfoniekonzert und man säße oben im Scheinwerferlicht. Erstaunlich, wie bruchlos und organisch es gelingt, Tschaikowskys "Pathétique"-Sinfonie als Ballettmusik "zweckzuentfremden". Gerade das schwermütigste Werk des Komponisten liefert die Folie für faszinierende Bilder. Den dritten Satz wird man künftig kaum hören können, ohne an das albtraumartige "Mütterballett" zu denken.

Am Schluss schenkt Grützmacher den jubelnden Zuschauern das besagte, fast religiös anmutende Wiederauferstehungs-Happy-End. Man kann das für Kitsch halten. Aber pflegen Märchen nicht stets mit dem Satz "und sie lebten noch lange glücklich zusammen" zu enden? Nächste Vorstellungen: 11., 13., 28., 31. März, 5., 9. April. Karten in den TV-Service-Centern Trier, Bitburg, Wittlich, unter der TV-Tickethotline 0651-7199-996 und online unter www.volksfreund.de/tickets.

UMfrage

Mateusz Magdziak, Trier: "Ein interessantes, spannendes Tanzstück, das mir sehr gut gefallen hat. Diese Art von Ballett macht Appetit auf mehr." Christel Molz, Traben-Trarbach: "Alle Achtung vor der tänzerischen Leistung von allen auf der Bühne. Ich wusste, dass mich etwas Modernes erwartet. " Alexandra Prischedko, Trier: "Die Aufführung war sehr abwechslungsreich mit einer Vielzahl von Motiven. Es wurde auf klassische Musik modern getanzt." Petra Udelhofen, Trier: "Ein eigenwilliges Stück, das streckenweise sehr leidenschaftlich getanzt wurde." Umfrage und Fotos: Ludwig Hoff

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