Nie sollst du mich befragen
Ende Juli steht das deutsche Kulturleben still und blickt wie gebannt nach Bayreuth. Dabei gilt das Geschehen auf dem Grünen Hügel schon lange nicht mehr als Maßstab für die Opernwelt. Aber Kult ist eben Kult.
Und so ziehen auch Hundertschaften von Rezensenten gen Franken, um dem geneigten Feuilleton-Leser mitzuteilen, was sich im Mekka der Wagnerianer denn so begibt. Freilich schaffen sie nicht immer einen Mehrwert an Klarheit.
Dass dabei die Inszenierung auf sehr unterschiedliche Bewertungen trifft, liegt in der Natur der Sache. Wenn der Regisseur, wie in diesem Jahr, Lohengrin unter die Ratten im Versuchslabor fallen lässt, gehen die Meinungen auch bei Kritikern weit auseinander.
Aber man sollte annehmen, dass zumindest ein so schnödes Kriterium wie die Reaktion der Zuschauer einer objektiven Betrachtungsweise zugänglich ist. Aber weit gefehlt. "Hans Neuenfels begeistert in Bayreuth", titelt etwa die Welt, schreibt überschwänglich von "Beifallsgewoge" und weist knapp darauf hin, dass es auch etwas "Buh-Regen" gegeben habe.
Letzterer gerät im Stern zu "orkanartigen Buhs und massivem Unmut", was die Neue Zürcher Zeitung mit "geschlossener donnernder Ablehnung" sogar noch toppt. Der Kritiker des Internetportals shortnews.de hört hingegen "begeisterten Applaus", der nur am Rande von den "üblichen Buhrufen" einiger Alt-Wagnerianer begleitet worden sei. Der Rezensent der Pforzheimer Zeitung fand sich in einem "Buh-Gewitter" wieder, wohingegen der Wiener Standard "Sympathien für Neuenfels" ausmachte. Die FAZ-Kritikerin hörte "Stürme von Buhrufen", ihr Kollege von der benachbarten Frankfurter Neuen Presse vernahm hingegen "stürmischen Applaus".
Na gut, wenn da keine Einigkeit zu erzielen ist, versuchen wir es doch bei der Musik. Zum Beispiel dem jungen Dirigenten Andris Nelsons. "Ein Wunder aus dem Graben", wie der "Fränkische Tag" euphorisch konstatierte. Beziehungsweise "der wirkliche Star des Abends", wie ihn der Kölner Stadtanzeiger präsentierte. Erfolg auf der ganzen Linie also? Nicht ganz. Die Mainzer Allgemeine hörte ein "fahriges Festspielorchester", die Hannoverschen Neuesten Nachrichten "unausgegorene Ruppigkeiten". Oha. Die Nürnberger Nachrichten urteilten gönnerhaft über den Newcomer: " geht in Ordnung", dem Hamburger Abendblatt war das Orchester schlicht "zu sachlich". Die Experten der Südwest-Presse und der Rheinischen Post waren offenbar in einer ganz anderen Aufführung: "Fein, aber impulsiv" sei Nelsons' Dirigat gewesen, er zaubere "ein lebhaftes, in sich selbst vibrierendes Gebilde aus dem Graben".
Vibrator oder nicht? Die Frage bleibt offen. Vielleicht lässt sich wenigstens Konsens in der Beurteilung des vom Publikum einhellig gefeierten Lohengrin-Titelhelden Jonas Kaufmann erzielen. "Es wurde sein Abend", schwärmt die Augsburger Allgemeine, "bravourös" jubelt der Fränkische Tag, ein "Meisterwerk der Sangeskunst" diagnostiziert die Rheinische Post über den "deutschen Vorzeigetenor" (Südkurier). Bei der Stuttgarter Zeitung, der FAZ und der Welt hingegen vernehmen die Ohren ganz andere Töne: "Gaumig-kloßige Piano-Farben" zum Beispiel, "allzu kehlige" Klangproduktion oder "weit hinten im Hals" entstehender Gesang mit "abgepressten Piani".
Gut, dass Kaufmann wenigstens ein toller Schauspieler ist, der seine Rolle "sehr glaubhaft" (Mainpost), ja sogar "hinreißend" (Kurier) verkörpert. Oder etwa doch nicht? Der gute Mann mache sich ja "gar nicht die Mühe, seine Rolle als Darsteller mit Sinn und Intensität zu füllen", befindet der Kölner Stadtanzeiger.
Ratlosigkeit allenthalben. War Lohengrin-Partnerin Elsa alias Annette Dasch eine "Fehlbesetzung" (Mannheimer Morgen), "unscheinbar" (Fränkischer Tag) und "eindimensional" (Nürnberger Nachrichten)? Oder eine "samtig schwebende und leuchtende, balsamische Sopranstimme" (FAZ), "strahlend, klar und kräftig" (Badische Zeitung), mit "wunderbar warmen und nuancierten Tönen" (Frankfurter Neue Presse)?
Nie sollst du mich befragen.
Dieter Lintz