Pfählt die Vampire!

Schon wieder Platz eins für einen "Bis(s)"-Roman von Stephenie Meyer. Und doch irgendwie seltsam: Wir wissen alles über Vampire und Werwölfe, aber kommen ins Schleudern, wenn wir unsere Familiengeschichte erzählen sollen.

Trier. Früher, als die Welt noch klar und überschaubar war, gab es nur zwei Arten von Lektüre: solche für Kinder und solche für Erwachsene. Kinderliteratur handelte von kleinen wunderlichen Männern, die auf Dächern lebten und fliegen konnten, und von freundlichen Gespenstern, die harmlosen Schabernack trieben. In der Ü18-Literatur hingegen war kein Platz für Fantasiewesen mit übersinnlichen Fähigkeiten. Ob Böll oder Konsalik, stets wurden Menschen aus Fleisch und Blut in Gefühle verwickelt und in Schuld verstrickt. Es war keine besonders angenehme Welt, die dort beschrieben wurde, und dennoch wäre es einem Erwachsenen nie in den Sinn gekommen, nach Feierabend - wenn der Nachwuchs im Bett lag - zu den gesammelten Werken Astrid Lindgrens oder Otfried Preußlers zu greifen. Die Kindheit war vorbei, und damit hatte es sich!

Das änderte sich 1999 mit den "13 Leben des Käpt'n Blaubär" von Walter Moers. Die Figur einer Kindersendung fand sich plötzlich in einem 700-Seiten-Roman wieder, der vor allem Erwachsene begeisterte. Etwa zur gleichen Zeit machte sich ein Jugendlicher namens Harry Potter von England aus auf den Weg, die Welt zu verzaubern. Seine literarische Mutter Joanne K. Rowling kam schon bald mit dem Schreiben nicht mehr hinterher. Erst nach sieben dicken Bänden konnte Harry das Zauberinternat Hogwarts guten Gewissens verlassen. Und auch Moers brachte es (bisher) auf immerhin fünf Schwarten, deren geografisches Zentrum ein Fantasie-Kontinent ist. Um genau zu sein: ein Fantasy-Kontinent.

Nun ist Fantasy kein neues Genre. Jahrzehntelang führte es eine so-

lide Nischenexistenz. Mehr aber auch nicht. Erst seit den späten 90ern hat sich Fantasy zum Massenphänomen entwickelt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die Lücke, die Rowlands Harry Potter hinterließ, wurde umgehend von Stephenie Meyers Vampiren gefüllt. Dass "Bis(s) zum Morgengrauen" von der amerikanischen Fachzeitschrift Publishers Weekly zu einem der besten Kinderbücher des Jahres gekürt wurde, hielt Millionen von Erwachsenen nicht davon ab, das Buch für sich selbst zu kaufen. Auch diesmal blieb es nicht bei einem Band - der Süchtige braucht stetig neuen Stoff.

Mittlerweile dürften Heerscharen von 20- bis 40-Jährigen zu Experten in Vampirologie und Dämonologie geworden sein. Doch dieselben Menschen, die im Detail den Lebenslauf von Harry Potter und die Liebesgeschichte von Bella und Edward runterbeten können, werden erstaunlich wortkarg, wenn es um die eigene Familien biografie geht. "Oral History", die mündliche Weitergabe von Alltagsgeschichte, die in anderen Kulturen selbstverständlich ist, findet in Deutschland schon lang nicht mehr statt.

Das begann mit den Urgroßeltern. Diese hatten sich in den Jahren 1933 bis 1945 nicht gerade mit Ruhm bekleckert und zogen es daher vor, in der Nachkriegszeit dezent zu schweigen. Doch auch der Wirtschaftswunder-Generation stand nicht der Sinn nach Reden - vielleicht, weil sie sich sonst hätte eingestehen müssen, dass vor lauter Überstunden alles andere auf der Strecke blieb: die Ehe, die Familie, die Freunde. Und die 68er und ihre jüngeren Geschwister aus der Anti-AKW- und Friedensbewegung? Sie hätten viel zu erzählen. Doch die wirklich spannende Geschichte - warum sie alles anders und besser machen wollten und genau das Spießerleben, das sie bekämpften, heute selbst führen, quasi dasselbe in Grün - wird man von ihnen nicht zu hören bekommen.

Die Unfähigkeit, offen und selbstkritisch über das eigene Leben zu sprechen, bleibt nicht folgenlos. Denn den Kindern dieser verschwiegenen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wird die vielleicht wichtigste Information vorenthalten: Was es bedeutet, erwachsen zu sein. Warum man sich von Träumen und Hoffnungen verabschiedet hat und Kompromisse eingegangen ist, immer wieder. Keine schönen Geschichten. Aber Geschichten, die es der nachwachsenden Generation leichter machen könnten, selbst erwachsen zu werden. Ohne Illusionen, ohne Selbstbetrug und bitte ohne Harry Potter und Bella.

Stephenie Meyer: Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl: Das kurze zweite Leben der Bree Tanner. Carlsen-Verlag, ISBN 978-3551582003.

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