Plädoyer für Toleranz

London · Als Ko-Autor eines verschollenen Dramas über den Staatsmann und Humanisten Thomas Morus hat William Shakespeare eine Szene beigesteuert, in der der Titelheld eine wutschäumende Menge besänftigt. Der Grund für den Zorn: die zahlreichen Fremden, die vom Kontinent auf die Insel geflüchtet waren.

 Heute stammen viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder aus Afrika - zu Shakespeares Zeiten vor 500 Jahren wollten viele Engländer die zugezogenen Menschen aus Flandern und Frankreich wieder loswerden. Symbolfoto: dpa

Heute stammen viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder aus Afrika - zu Shakespeares Zeiten vor 500 Jahren wollten viele Engländer die zugezogenen Menschen aus Flandern und Frankreich wieder loswerden. Symbolfoto: dpa

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London. Es ist ein seltsamer Zufall, dass vor fast genau 500 Jahren, im Mai 1517, in England eine Flugschrift auftauchte, in welcher der König - damals saß der frauenverschleißende Heinrich VIII. auf dem Thron - und sein Rat beschuldigt wurden, das Land durch die Bevorzugung fremder Ankömmlinge zu ruinieren. Die Flüchtlinge - das waren Menschen aus Flandern und Frankreich, die teils aus politischen, teils aus religiösen Gründen über den Kanal gesetzt hatten, um ihr Leben zu retten.
Gegen Ende des Jahrhunderts - inzwischen regierte Elisabeth I.- tauchten erneut fremdenfeindliche Flugblätter in London auf: "Sieht die Welt etwa nicht, dass Ihr Belgier, Ihr bräsigen Biester ... Ihr feigherzigen Flamen ... Ihr falschmünzerischen Franzosen mit eurer memmischen Flucht (eure eigene Länder) den ... Feinden überliefert habt?" Alle Flamen und Franzosen wurden aufgefordert, "zu ihrem eigenen Wohl" das Königreich umgehend zu verlassen, verbunden mit der unverhohlenen Drohung: "Wenn nicht, habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben, was folgt". Von der Regierung wurden die Flüchtlinge durchaus mit Wohlwollen empfangen, sorgten sie doch für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der allerdings ging auf Kosten der alteingesessenen Handwerker und Zunfttreibenden, die um ihre Existenz fürchteten.
Die Situation war mithin brisant genug, um sie in einem Theaterstück zu thematisieren - das teilweise Shakespeares Handschrift zeigt, wie Experten festgestellt haben. Die Szene beschreibt einen Auftritt der Londoner Wutbürger ("Pest auf das Pack, die wolln nich Ruhe geben"), denen von eben jenem Morus ins Gewissen geredet wird: "... stellt euch vor, ihr seht die Fremden, elend, / Mit Lumpenbündeln, Kinder auf dem Rücken, / Wie sie zu Küsten und zu Häfen trotten / (...) wärt ihr selbst die Fremden: Würd's euch gefalln, / Wenn ihr dort auf ein Volks träft, so barbarisch, / Dass es wild ausbricht in Gewalt und Hass, / Euch keinen Platz gönnt auf der weiten Welt ...".
Anders als heute jedoch stoßen die Worte des Humanisten auf offene Ohren: "Ja, Herrgott, er hat recht. Handeln wir, wie wir an uns gehandelt sehn wollen", beschließen die einsichtig gewordenen Bürger am Ende der Szene.
Freilich: Shakespeare jetzt vorschnell als empathischen Sozialromantiker zu bezeichnen, greift wohl doch zu kurz. Wie sein Übersetzer Frank Günther im Nachwort zu bedenken gibt, lässt der Dichter eine Figur sprechen. Ob er deren Meinung war, muss offen bleiben. Schließlich weiß sich der Dramatiker ebenso kenntnisreich in der Gefühlswelt seiner schurkischen Charaktere zurechtzufinden, ohne dass er selbst einer gewesen wäre. Und ob es Morus tatsächlich um das Wohl der Flüchtlinge ging, auch dies sei zumindest zu bezweifeln, wie Günther anhand des Textes nachweist: In erster Linie gehe es dem Politiker um den Erhalt der Ordnung im Staat, der durch einen Aufstand (gegen wen auch immer) in seiner Existenz bedroht wäre.
Der versierte Stückeschreiber Shakespeare handelt hier also praktisch sehr vorausschauend nach Kriterien eines modernen, ethischen und glaubwürdigen Journalismus, wie sie knapp vier Jahrhunderte später Hanns Joachim Friedrichs formulieren sollte: "Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten."
William Shakespeare: Die Fremden - Für mehr Mitgefühl, hrsg. und übersetzt von Frank Günther, mit einem Vorwort von Heribert Prantl, Deutscher Taschenbuch Verlag, 67 Seiten, 6 Euro.

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