Nationalsozialistischer Terror Novemberpogrome 1938: Als Juden verfolgt und Synagogen zerstört wurden (Podcast)

Audio · Vor 85 Jahren zeigt das antisemitische Nazi-Regime sein wahres Gesicht: In vielen Städten und Dörfern – auch in der Region Trier – dringen Parteibanden in jüdische Synagogen und Wohnhäuser ein und hinterlassen eine Spur von Leid und Verwüstung. Doch der angebliche spontane „Volkszorn“ ist in Wirklichkeit ein von höchster Stelle gesteuerter Überfall auf eine wehrlose Minderheit.

Der Mob zeigte sich zur Mittagszeit: „Gegen 1 Uhr nachmittags“, erinnert sich Martha Bermann Jahre nach dem Angriff des 10. Novembers 1938, „kam eine mit Äxten und Hämmern bewaffnete Bande in das Haus meiner Eltern in Osann“.

Die damals 24-jährige Jüdin lebt mit ihrer Familie im Ort an der Mosel. Sie flüchtet mit ihrer Mutter zu einer Nachbarin, ihr Vater und die jüdischen Männer des Ortes werden von der Gestapo, der Geheimpolizei der nationalsozialistischen Diktatur, verhaftet und ins Gefängnis nach Wittlich gebracht. Im Verlauf des Tages wird das Haus der Familie geplündert, ebenso wie die jüdische Synagoge im Ort. Als Martha Bermann am nächsten Tag zurückkehrt, findet sie den Hausrat teils zerstört vor. „Ein unbeschreibliches Chaos“ sei es gewesen, Matratzen in Öl getränkt, die Waren im Laden geraubt. So hat es der Wittlicher Autor Franz-Josef Schmit recherchiert.

In Trier-Süd trommelt am gleichen Tag Heinrich Loser, Leiter der örtlichen NSDAP-Gruppe, seine Leute zusammen und dringt in Wohnhäuser jüdischer Bewohner des Stadtteils ein – während andere Schläger die Trierer Synagoge im Stadtzentrum verwüsten. Loser, ein sogenannter „alter Kämpfer“, der schon seit 1931 der Partei angehört, gilt als „engagierter Anhänger der Nazis“, wie die Uni-Trier-Absolventin Viktoria Südmeyer bei einem Vortrag im Stadtmuseum Simeonstift erklärte. Eines seiner Opfer ist der Trierer Landgerichtsrat Albert Baum. Er wird Jahre später als überlebender Zeuge in einem der vielen Nachkriegsprozesse gegen Loser aussagen.

Die Ausschreitungen in Osann und Trier, sie sind an diesem 10. November 1938 im damaligen Deutschland alles andere als Einzelfälle: Im gesamten Reichsgebiet attackieren vor 85 Jahren Partei-, SA- und SS-Horden teils mit Unterstützung hiesiger Einwohner, darunter auch Jugendliche, die Häuser und Beträume ihrer jüdischen Nachbarn.

Die NS-Propaganda schwadroniert vom angeblich spontanen „Volkszorn“ als Reaktion auf die tödlichen Schüsse eines 17-Jährigen auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris. Doch in Wirklichkeit sind die Pogrome eine von oben gesteuerte Kampagne des Nazi-Regimes, und sie verdecken eine andere Tragödie: Der junge Herschel Grynszpan wollte mit dem Attentat in Paris gegen die Deportation seiner jüdischen Eltern protestieren. Diese lebten wie Tausende andere polnische Juden seit Jahrzehnten in Deutschland, als die Nazis sie in einer Nacht- und Nebel-Aktion ins Nachbarland vertreiben. In Polen sind jüdische Flüchtlinge aber ebenso wie in anderen europäischen Ländern alles andere als willkommen.

Als der Diplomat am 9. November seinen Verletzungen erliegt, nimmt Reichspropagandaminister Joseph Goebbels dies zum Anlass, die seit 1933 betriebene Unterdrückung der Juden zu verschärfen. Mit Billigung Adolf Hitlers gibt er Anweisungen an die Parteiführer: Häuser und Synagogen zerstören, nach Waffen suchen und Brände nur löschen, wenn „arischer“ Besitz gefährdet sei. Die Vorgaben wandern weiter zu den Untergebenen.

Was folgt, ist eine Serie an Gewaltakten. 1406 Synagogen und bis zu 7500 jüdische Geschäfte werden zerstört, so Zahlen des Historikers Raphael Gross. Frauen werden vergewaltigt, bis zu 30.000 Männer zeitweilig ins Gefängnis geworfen oder in Konzentrationslager transportiert – insbesondere wenn sie eher vermögend sind.

Das Foto vom 10. November 1938 zeigt eine jüdische Ladenfront nach der Zerstörung durch Nazis in Frankfurt/Main - Bilder, die sich an diesem Tag deutschlandweit wiederholten.

Das Foto vom 10. November 1938 zeigt eine jüdische Ladenfront nach der Zerstörung durch Nazis in Frankfurt/Main - Bilder, die sich an diesem Tag deutschlandweit wiederholten.

Foto: dpa/-
Podcast Novemberpogrome an der Mosel 1938: Als die Nazis Juden verfolgten und Synagogen zerstörten
Foto: Franz-Josef Schmit/Archiv Leslie Koelsch/Archiv Leslie Koelsch

Allein in Trier werden 100 Juden im städtischen Gefängnis in der Windstraße in „Schutzhaft“ genommen. Den Novemberpogromen – das russische Wort bezeichnet gewalttätige Angriffe auf religiöse oder ethnische Minderheiten – fallen schätzungsweise bis zu 1500 Juden zum Opfer, teils direkt bei den Angriffen, teils als Folge der Haft oder durch Selbstmord.

Auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz sind aktuellen Forschungen der Landeszentrale für politische Bildung zufolge mehr als 40 Menschen Opfer der Pogrome gewesen, sagt Thomas Grotum von der Universität Trier. Er forscht zur Geschichte der Gestapo Trier und hat mit seinen Studenten bereits mehrere Einzelergebnisse präsentieren können - so wie die Arbeit von Viktoria Südmeyer, die die spätere juristische Aufarbeitung der Novemberattacken zum Thema hatte.

Wer kann, flieht nach dem Pogrom ins Ausland. Die Nazis zwingen ihre Opfer, die Reparaturkosten ihrer Häuser und Geschäfte selbst zu tragen und mittels einer Vermögensabgabe eine immense „Sühnezahlung“ an den deutschen Staat zu leisten. Zugleich folgen weitere Verbote wie Handwerk oder Immobilienbesitz, um den Juden das Leben in Deutschland noch mehr zu erschweren. „Die Pogrome am 9./10. November 1938 bilden eindeutig eine Zäsur“, sagt Grotum. Sie seien als „Auftakt zum Holocaust“ anzusehen – weil mit ihnen „die offene, staatlich inszenierte Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung eingeläutet wurde, die nicht mehr nur von fanatischen Antisemiten, sondern auch von Nachbarn und vormals friedlichen Mitbürgern und Mitbürgerinnen ausgeübt wurde. Die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz, an der zahlreiche Institutionen und Amtsträger beteiligt wurden, nahm im Anschluss ebenfalls noch extremere Formen an.“ Martha Bermann beispielsweise kann nach dem Pogrom ins Ausland fliehen, ihr Vater und ihre Schwester werden aber im KZ Ausschwitz ermordet.

Es ist bezeichnend, dass die Polizei während der Pogrome nicht zum Schutz der Juden eingreift. „Ein an alle Staatspolizeistellen des Reiches gerichtetes Fernschreiben der Gestapo-Zentrale in Berlin belegt sowohl die frühzeitige Kenntnis der leitenden NS-Organisationen über das Pogromgeschehen als auch deren Anweisung, die Gewaltaktionen 'nicht zu stören'“, erklärt Grotum.

Die Gestapo war verantwortlich für die Festnahme zahlreicher jüdischer Männer in Trier. Im Fall des Trierer Pogromsopfer Albert Baum war die Festnahme so brutal, dass er ohnmächtig zusammenbrach, erläutert der Experte. In Bausendorf (Landkreis Bernkastel-Wittlich) nimmt ein Polizist die Juden des Ortes im Schulgebäude in „Schutzhaft“ - nicht um sie zu schützen, sondern damit ein SS-Zerstörungstrupp aus Traben Häuser demolieren könne, wie Franz-Josef Schmit in seiner Recherche zum örtlichen Pogrom herausfand.

Dass sich dabei Täter auch bereicherten, liegt auf der Hand. So hatten SA-Leute in Wintrich unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, in einem Haus tatsächlich nach Schuldscheinen geschaut, erzählt Schmit im Geschichts-Podcast des TV (siehe Infobox). Aussage eines damaligen Beteiligten: „Ich war total überrascht, was die Wintricher bei diesem Moses alles auf dem Kerbholz stehen hatten - und dann kam die Anweisung, diese Schuldscheine zu verbrennen, direkt vor dem Haus.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort