Interview Alice Schwarzer „Wir sind Einreiseland für Sextouristen“

Interview | Köln · Prostitution ist für die Feministin ein Freifahrtschein für Menschenhändler. Sie fordert das Nordische Modell.

 Alice Schwarzer, Frauenrechtlerin, Publizistin, Herausgeberin der Zeitschrift „Emma“.

Alice Schwarzer, Frauenrechtlerin, Publizistin, Herausgeberin der Zeitschrift „Emma“.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten von CDU und SPD hat 2020 gefordert, die Bordelle nach dem Lockdown nicht wieder zu öffnen. Seitdem wird kontrovers darüber diskutiert, wie mit dem sogenannten Sexmarkt hierzulande verfahren werden soll.

Frau Schwarzer, der Lockdown bietet viele Chancen; eine davon ist, über die Prostitution in Deutschland grundsätzlich nachzudenken. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?

ALICE Schwarzer Ermutigend! In den vergangenen Monaten haben sich erstmals Bundestagsabgeordnete aus mehreren Fraktionen sowie die gesamte CDU-Frauenunion für ein Verbot der Prostitution ausgesprochen. Das heißt, für die Bestrafung der Freier und verstärkte Ausstiegshilfen für die Frauen. Umso erstaunlicher, dass die CDU-Frauenunion NRW einen genau gegenteiligen Kurs einschlägt, allen voran die Düsseldorfer CDU-Bundestagsabgeordnete Sylvia Pantel. Die Mutter von fünf Kindern schäkert aber offensichtlich gerne mit Bordellbetreibern wie Felicitas Schirow und Bert Wollersheim rum, wie Fotos belegen. Letzteren bezeichnete die Christdemokratin als einen „netten Mann“. Das ist schon sehr irritierend.

Ein Argument jener, die alles so lassen wollen, lautet: Mit einem Sexkaufverbot werden Prostituierte in die Illegalität abgedrängt. Stimmt das? Und ist das in Deutschland nicht schon lange der Fall?

Schwarzer Das Gegenteil ist der Fall! Das aktuelle Prostitutionsgesetz hat Deutschland zum Bordell Europas und zum Einreiseland für Sextouristen gemacht. Es ist ein Freifahrtschein für Menschenhändler, Zuhälter und Bordellbetreiber. Die Frauen aber lässt es im Stich. Die Schätzungen belaufen sich heute in Deutschland auf 200.000 bis 400.000 Frauen in der Prostitution. Das muss man sich mal vorstellen! Wir haben keine Ahnung, wie viel Hunderttausende es überhaupt in Deutschland gibt. Nur 76 Prostituierte haben sich sozialversicherungspflichtig angemeldet – und rund 40.000 bei der jeweiligen Stadt, der Rest ist in der Illegalität. Aber was bedeutet Legalität? Wenn zum Beispiel eine 18-jährige Rumänin, die von ihrer Familie in ein deutsches Bordell geschickt wird, jeden Tag 20 Freier bedienen muss, ist das in Deutschland legal. Wollen wir das?

Ist Prostitution Menschenhandel?

Schwarzer Die heutige Prostitution ist ohne Menschenhandel gar nicht denkbar. Sie liegt weitgehend in den Händen der organisierten Kriminalität. Die Frauen, die oft kein Wort Deutsch sprechen und aus Osteuropa oder Afrika importiert werden, karrt man als „Frischfleisch“ alle paar Wochen von Bordell zu Bordell. Eine Unterscheidung zwischen „Zwangs“- und „Elends“-Prostitution ist nicht möglich, diese Frauen tun es alle aus ökonomischen Zwängen und unter Gewaltandrohung. Und die maximal zehn Prozent „Freiwilliger“, also der deutschen Prostituierten, sind so manches Mal Opfer von Loverboys – oder Betreiberinnen sogenannter Studios, in denen andere Frauen für sie anschaffen, also selber Zuhälterinnen.

Das sogenannte Nordische Modell kriminalisiert die Sexkäufer, nicht die Frauen. Was halten Sie von diesem Weg?

Schwarzer Es ist der einzige Weg! Denn erst die Käufer schaffen den Markt. In dem Moment, wo es keine Kunden mehr gibt, gibt es auch keine Prostitution mehr. Darum ist die Bestrafung von Freiern – mit Geldstrafen und Aufklärungskursen – der erste Schritt im Kampf gegen die Prostitution. Die Frauen in der Prostitution aber dürfen nicht kriminalisiert werden, im Gegenteil: Denen muss geholfen werden. Durch Möglichkeiten zum Ausstieg zum Beispiel. Oder am besten noch früher: Durch Aufklärung über die große Gefahr in deren Heimatländern. Damit sie gar nicht erst kommen.

Seit 1999 gibt es in Schweden das Sexkaufverbot. Der Sexmarkt dort sei dadurch inzwischen tot, heißt es. Zudem sind Gewaltdelikte gegenüber den Frauen drastisch gesunken. Warum wird in Deutschland darüber erst jetzt diskutiert und zudem noch kontrovers?

Schwarzer Nicht nur Schweden bestraft Freier, auch Frankreich und Israel tun das heute, und es werden immer mehr Länder. Heute sind in Schweden drei von vier Männern und acht von zehn Frauen für die Ächtung der Prostitution und die Bestrafung der Freier. Ein Mann, der sich erwischen lässt, ist unten durch – und prahlt nicht mit seinen Bordellbesuchen in der Boulevardpresse wie in Deutschland. Wie kann es sein, dass gerade Deutschland gegenüber diesen Verstößen gegen die elementarsten Menschenrechte so ignorant ist? Ja, das muss die Politik sich fragen.

Überwiegt in Deutschland ein uraltes, diskriminierendes Frauenbild? Und findet das unter anderem seinen Ausdruck in der verachtenden Formulierung vom „ältesten Gewerbe der Welt“, womit zugleich vieles legitimiert zu sein scheint?

Schwarzer So ist es. In Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter ist Deutschland im Vergleich mit der westlichen Welt traditionell das Schlusslicht, in allen Bereichen. Auch die Lohnschere ist ja bei uns die breiteste. Was durchaus zusammenhängt: Ein Geschlecht, das man kaufen kann, achtet man nicht – und bezahlt es schlecht.

Wieviel Rassismus schwingt in der Debatte über Prostitution mit – vor dem Hintergrund, dass 80 Prozent der Prostituierten Ausländerinnen sind und meist aus den ärmsten Ländern der Welt kommen?

Schwarzer Natürlich spielt es bei der Gleichgültigkeit in Deutschland gegenüber den Hunderttausenden in der Prostitution malträtierten, ausgebeuteten Frauen gleich nebenan eine Rolle, dass die Betroffenen überwiegend Ausländerinnen sind. Weggesperrt in Großbordellen oder auf dem Straßenstrich am Stadtrand. Wir haben das Problem sozusagen outgesourct. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass es unsere eigenen Söhne, Brüder und Väter, unsere Lebensgefährten und Kollegen sind, die zu Prostituierten gehen – und dann mit den entsprechenden Fantasien und einem gewissen Blick auf Frauen zurückkommen. Auch das ist ein Grund zur Ächtung der Prostitution: Solange der Frauenkauf gesellschaftlich akzeptiert wird, ist meiner Überzeugung nach eine wirkliche Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nicht möglich.

Die EU hat vor sieben Jahren zur Prostitution erklärt, dass mit ihr die Menschwürde verachtet würde und mit der Gleichstellung der Geschlechter unvereinbar sei. Das hat hierzulande offenbar wenig Spuren hinterlassen…

Schwarzer Generell benötigt Deutschland immer mehrere Aufforderungen, mit dem EU-Recht gleichzuziehen, sobald es um die Gleichberechtigung der Frauen geht. Nach sieben Jahren wird es höchste Zeit, dass auch die deutsche Politik sich um diesen Skandal kümmert. Gerade werden die Wahlprogramme geschrieben. Eine gute Gelegenheit, das Ziel der Ächtung und des Verbots von Prostitution festzuschreiben. Die Vereinten Nationen haben schon 1949 erklärt, dass „die Prostitution und das sie begleitende Übel des Menschenhandels mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person unvereinbar“ sei. Und das gilt laut UN auch für die sogenannte freiwillige Prostitution.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort