Reingehört

Es muss ziemlich anstrengend gewesen sein, das Leben im Berlin der 1920er und 30er Jahre - nicht allein für das Heer der Arbeitslosen, deren Alltag zu einem harten Überlebenskampf geworden war, sondern auch für diejenigen, die in einem immerwährenden Vergnügungstaumel durch die zahllosen Etablissements der Stadt flatterten. Für jene "jeunesse dorée" hatte Berlin in der Tat, wie Josephine Baker schrieb, "ein juwelenhaftes Funkeln, .

Reingehört
Foto: (g_kultur

.. das es in Paris nicht gab. Die riesigen Cafés erinnerten mich an Ozeandampfer, angetrieben von den Rhythmen ihrer Orchester. Überall war Musik". Wobei das Vergnügen nicht auf die Stunden der Dunkelheit beschränkt war. "Im Adlon kann man um halb sechs bereits kaum noch Platz bekommen. Dajos Béla ... dirigiert nach wie vor eine Schar von Tanzwütigen", heißt es etwa in einem Berliner Reiseführer aus dem Jahr 1928. Die ein erstaunliches Durchhaltevermögen besessen haben mussten: "Welch entsetzliche Langeweile in Rom oder London nach 11 Uhr abends", klagt "Rumpelstilzchen", Pseudonym eines Reporters für die Zeitschrift Berliner Funken. "Da ist buchstäblich nichts mehr los ... In Berlin aber schäumt nach harter Tagesarbeit die Lebenslust auf. Da sausen die Autos umher, da ist Leben und Bewegung." Und das dokumentiert dieser Bildband anhand zahlreicher Schwarz-Weiß-Fotos, Skizzen, getuschter Zeichnungen und reproduzierter Magazincover, die mit unverhohlener Frivolität und Erotik für Auflage sorgten. Beim Blättern durch den Bildband gewinnt man den Eindruck, dass diese Stadt in einer Art Dauerfieber steckte. Der Erste Weltkrieg war vorbei, der nächste noch nicht in Sicht, die Technik sorgte für eine mediale Revolution nach der anderen - Rundfunk, Schallplatte, Stumm- und Tonfilm -, und in den Tanzpalästen wetteiferten die besten Orchester aus dem In- und Ausland mit Jazz- und Swingklängen (was seinerzeit fast deckungsgleich war) um ihr Publikum. Nichts ist in diesen Dokumenten zu bemerken vom aufkommenden braunen Unheil, das man entweder nicht sah oder nicht sehen wollte: "Auf meinen Reisen als farbiger Musiker und Sänger stellte ich fest, dass die Deutschen gelernt hatten, Swing-Musik zu verstehen (...) Und als die Nazis versuchten, die Popularität des Swings einzudämmen, war ihnen das nicht möglich", befand der (farbige) amerikanische Posaunist Herb Flemming 1938. Er hatte insofern recht, als dass die Nazis den "Swing" in der Tat nicht ausrotten konnten - nur die Musiker, die ihnen nicht genehm waren. Den Sound zum Bildband, dessen Text das sorgfältige Auge eines Lektors gutgetan hätte - neben zahlreichen Kommafehlern hat der Autor eine Vorliebe für unvollständige Sätze oder solche, die im Nirwana enden - liefern drei CDs mit 70 Tondokumenten von 1926 bis 1950 (ja, auch in den Ruinen von Berlin kroch sozusagen als Erstes die Musik wieder unter dem Schutt hervor, den die Trümmerfrauen beiseite räumten, ehe sie abends schwofen gingen), darunter heute noch populäre Namen wie Jack Hylton, die Weintraub Syncopators, Barnabas von Géczy, Marek Weber, das Meistersextett (wie sich die Comedian Harmonists nannten, nachdem die jüdischen Mitglieder der Gruppe Deutschland verlassen mussten), Willy Berking oder Bernhard Etté und, sozusagen stellvertretend für den Klang der jungen Bundesrepublik, das RIAS-Tanzorchester unter seinem Dirigenten Werner Müller. Die Einspielungen, deren älteste 90 Jahre zählt, sind auch heute noch - in ihrer musikantischen Naivität, in ihrer unbekümmerten Albernheit und ihrer unverschämt guten Laune - ein unkaputtbares Hörvergnügen. Rainer Nolden "Berlin 1920-1950: Sounds of an Era", mit Texten von Marko Heinrich Christian Paysan, 3 CDs, Ear Books, Edel Germany GmbH, 348 Seiten, 300 Abbildungen, 49,95 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Vom erwischt werden
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael BoltonVom erwischt werden
Zum Thema
Aus dem Ressort