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71Es galt, einen Schutzraum zu errichten, der über Monate hinweg das Überleben sicherte. Sie wusste auch schon, wen sie mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe betrauen würde: den großen Statiker in unserer Familie, meinen Vater.Seit der Trennung von meiner Mutter führte er ein Leben, das frei von Erfahrungen und Erlebnissen war.

Wenn er nicht arbeitete, trank er Bier. Und wenn er nicht Bier trank, arbeitete er. Manchmal trank er auch, während er arbeitete. Wenn er die Leere in seinem Leben als zu mächtig empfand, trank und arbeitete er noch mehr. Vielleicht war das der Grund, warum er das Ansinnen meiner Tante nicht etwa als Ausgeburt eines gestörten Geistes zurückwies, sondern sich bereit erklärte, ihren Keller im Sinne des Zivil- und Katastrophenschutzes aufzurüsten. Im Gegenzug erbot sie sich, den künftigen Hochsicherheitstrakt mit ihm zu teilen.Mein Vater nahm seine Aufgabe ernst. Um einem möglichen Meteoriteneinschlag Paroli zu bieten, baute er zusätzliche Eisenträger ein und verstärkte die Wände mit Stahlbeton. Die Idee eines Belüftungsschachts mit mehrstufigem Filtersystem verwarf er mangels Zeit. Stattdessen riet er seiner Auftragsgeberin an, den todbringenden Schwefelgasen - Tante Gertrud wollte nicht ausschließen, dass die Reiter der Apokalypse mit höllischem Gestank herangaloppierten- durch eine Versieglung des Kellers vorzubeugen. Ein Ratschlag, der zur Folge hatte, dass sie neben Unmengen von Isoliermaterial einen raumfüllenden Sauerstofftank orderte.Da der Mensch nicht von der Luft allein lebt ("und von der Liebe schon gar nicht", hätte meine Tante hinzugefügt), ließ sie außerdem einen zweitausend Liter fassenden Wassertank herbeischaffen- womit die Waschküche blockiert war. Ein weiterer Kellerraum fiel fast komplett dem Notstromaggregat zum Opfer. In einer schmalen Ecke blieb gerade noch genügend Platz für das WC, eine abenteuerliche Konstruktion aus provisorisch verlegten Abflussrohren, die in eine frisch ausgehobene Senkgrube mündeten.Blieb die Frage der Ernährung. Angesichts der Ungewissheit über die Länge des Zwangsaufenthalts empfahl sich eingedickte Bundeswehrkost. Hoch konzentrierte Mahlzeiten, die selbst nach Jahren noch so schmeckten wie am Tag ihrer Abfüllung. Nämlich abscheulich.An dieser Stelle trat mein Vetter in Erscheinung. Er kannte seine Mutter nur zu gut um zu wissen, wie zwecklos es war, ihren Wahn mit Worten zu erwidern- der Irre ist dann am glücklichsten, wenn er seinen Irrsinn ausleben darf. Also spielte Günter das Spiel mit. In einer Nacht- und Nebelaktion schaffte er über den Stabsunteroffizier einer Versorgungseinheit 36 Kartons mit Notvorräten für je einen Monat heran. Zwar fragte er sich, wie Tante Gertrud mit 1.256 Kalorien am Tag auf Dauer ernsthaft auskommen wollte, doch solange es weder gemahlenes Eisbein noch pulverisierte Butterkremtorte als Rekrutenproviant gab, würde sie mit Kartoffelbrei und Pumpernickel vorliebnehmen müssen.Zusätzlich besorgte er 800 Notrationen für Einzelkämpfer (bestehend aus Entkeimungstabletten, Teeextrakt und Powerenergiekeksen), was ihm insofern angemessen schien, als meine Tante sich zeit ihres Lebens allein auf weiter Flur verrannte. Er prustete los, als er sich vorstellte, wie sie, im Keller kauernd, an Powerenergiekeksen nagte. Dass dieses Hartgebäck Verstopfung auslöst (wie Zwangsverkoster in Oliv berichteten), hob seine Stimmung noch mehr. Und vollends strahlte er bei dem Gedanken, dass ihr "hirnrissiger Survival-Quatsch" ihm einen fünfstelligen Betrag bescherte. Er verzichtete darauf, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ihre Bestellung in keinem Auftragsbuch der Bundeswehr auftauchte.Damit waren alle Vorkehrungen für den Tag X getroffen. Mein Vater lehnte es ab, sie in den Bunker zu begleiten. Er hatte seine Pflicht getan, nun musste das Schicksal walten. Ob die Welt unterging oder nicht, beschäftigte ihn nicht weiter. Er hätte es ohnehin nicht mitbekommen. Zwei Stunden vor der großen Schwärze krachte ein Führerscheinneuling, der während der Fahrt seine neu erworbene Finsternisbrille aufsetzte, frontal in dessen zwölf Jahre alten Ford Sierra. Noch am Unfallort erhielt mein Vater eine Spritze, die ihn ins Land des Vergessens beförderte.Fortsetzung folgt.Das Buch "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist in allen TV-Pressecentern für 19,90 Euro erhältlich.

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