roman_237_2012

237Damals hatte sie ihn verachtet. Jetzt vermisste sie ihn.Fra Roberto erschien ihr jeden Tag fremder. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihm aus dem Weg ging. Meistens zog sie sich in das Haus zurück, in dem die albigensischen Frauen lebten.

Fast alle von ihnen waren Flüchtlinge, Romenge aus Fanjeaux befand sich unter ihnen sowie Aude aus Fouzilhon. Sie machten Handarbeiten und unterhielten sich über die politische Lage."Leonor, außerdem interessiert dich nur, wo Peire de Vallderonca ist. Du sollst wissen, er ist wieder verheiratet, mit Don Fernandos Tochter, und sehr beschäftigt.""Mit - Elena?" Leonor kannte die Kinder Adegunts. Die ganze Sache war ihr nicht so verborgen geblieben, wie Fernando immer gehofft hatte. Jaume war ohnehin immer einmal in der Begleitung Fernandos aufgetaucht und sah seinem Vater so ähnlich, dass Leonor sich den Rest zusammengereimt hatte. "Woher weißt du davon?""Leonor, du sollst keine weiteren Fragen stellen. Was für dich und deinen Weg nötig ist, erfährst du von mir, deinem Engelsbruder. Lies in den Schriften des Neuen Testaments, das ist genug."Warum hasste sie ihren Engelsbruder plötzlich? Leonor betrachtete ihn prüfend. Ihretwegen hatte er fast das Leben verloren, als Fernando ihm den Arm abgeschlagen hatte. Jahrelang hatte sie Fra Robertos Nähe gesucht und davor gezittert, er könnte sie fortschicken. Jetzt wünschte sie insgeheim, er würde nach Montsegur oder Peirepertuse aufbrechen und sie hier zurücklassen.Er wusste fast alles von ihr. Oft fürchtete sie, er könne ihre Gedanken lesen, wenn er sie manchmal streng oder fragend ansah. In solchen Momenten wurde sie rot wie ein beim Naschen ertapptes Kind. Fra Roberto behandelte sie wie ein unmündiges Mädchen, anders als die anderen Frauen, die zur Perfecta geweiht waren. Er tat, als sei sie sein Hündchen, willenlos, unterwürfig, allein deshalb, weil er sie so lange kannte.Diesmal stiegen Tränen der Wut in Leonors Augen auf. Périco war ihr Kind. Nach Fernandos Tod hatte sie ein Recht darauf zu erfahren, ob er noch lebte."Noch bin ich kein Engel und lebe auf dieser Erde, Bruder.""Bedauerlicherweise, Schwester.""Ich bin froh, dass ich noch hier bin.""Der Gedanke ist schon wieder falsch. Ich will dir erklären -""Lass mich allein.""Was willst du denn allein? Willst du verbotene Dinge essen? Damit gefährdest du deinen Status. Du zerstörst dir alles, wenn du so weitermachst.""Bruder, ich will allein sein. Ich will Gedanken haben, die nur mir gehören."Leonor empfand wieder das Gefühl von Beklemmung und Atemnot, das sie in letzter Zeit überkam, wenn sie mit dem Fra und anderen Perfecti zusammen war. Ein paar Mal war es so schlimm gewesen, dass sie ins Freie hatte gehen müssen."Ich möchte dich nicht allein lassen. Ich sehe, dass es nicht gut für dich ist." Er trat näher zu ihr."Bruder, was maßt du dir an? Ich weiß, was gut für mich ist."Die Auseinandersetzungen mit ihm strengten sie an. Einige Male hatte sie ihn angelogen, nur, damit er sie in Frieden ließ. Seine ständigen Überzeugungsversuche machten sie nicht mehr mürbe, sondern wütend.Sie wünschte ihn weit weg, auf eine Insel im Meer. Dann würde sie endlich den Mut haben, nach Périco zu suchen. Vielleicht würde sie sich auf den Weg zu Magalit machen oder Peire aufsuchen, der wahrscheinlich den Aufenthaltsort ihres Sohnes kannte. Ein neues Leben würde beginnen, in dem sie andere Dinge tun konnte, neue Dinge, wenn sie auch nicht wusste, welche das sein könnten. Vielleicht wieder einen Hund haben und auf einem Pferd reiten. Sie war seit Jahren nicht mehr geritten."Mach dir nichts vor", sagte der Fra, "ich durchschaue dich bis in die Tiefen deiner Seele. Ich lese in dir wie in einem aufgeschlagenen Buch."Sie wollte nicht von ihm durchschaut werden. Er sollte nicht mehr alles von ihr wissen. Sie wollte seine ständigen Fragen nicht mehr beantworten.Sie musste stark sein, obwohl sie am ganzen Körper zitterte. Sie musste anfangen, kleine Geheimnisse vor ihm zu haben, selbst, wenn es sie ihr Engeldasein kostete. Und sie wollte Périco wieder sehen.Am Abend dieses Tages ging Leonor in die Burgküche und aß seit Jahren das zweite hart gekochte Ei. Fortsetzung folgt.Das Buch "Der Sänger und die Ketzerin" ist in allen TV-Pressecentern für 9.90 Euro erhältlich.

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