Alltagsgeschichte Eine Seifenoper

Händewaschen ist eine hygienische Routinehandlung – nicht erst seit Corona. Sauberkeit und Hygiene sind Ausdruck unseres Lebensgefühls. Das war schon mal ganz anders.

 Spätmittelalterliche Badestube – Miniatur aus einer Handschrift, geschrieben für Antoine von Burgund, um 1470.

Spätmittelalterliche Badestube – Miniatur aus einer Handschrift, geschrieben für Antoine von Burgund, um 1470.

Foto: dpa

Weihrauch steht seit der Antike symbolisch für Reinigung, Verehrung, Gebet. Wem heute dieser herb-würzige Geruch in die Nase steigt, verbindet damit kaum noch einen weiteren Zweck, den das Verbrennen verschiedener Harze dereinst erfüllte: Wer Rauch riecht, riecht für den Moment nichts Anderes sonst, weil das menschliche Gehirn sich sofort ausschließlich auf das konzentriert, was Gefahr signalisiert. Das Entzünden eines Streichholzes auf dem stillen Örtchen hat übrigens dieselbe Wirkung. Bei Hochämtern in der frühen Neuzeit ist Weihrauch ein wahrer Segen. Er überdeckt den Geruch nach massenhaft ungewaschenem Mensch.

Dabei sind die, die da vor vielleicht 300 Jahren in die Kirchen strömen, schon einiges gewohnt. Denn auf den Straßen und Plätzen modern nicht nur organische Abfälle aller Art vor sich hin, über die Menschen und Nutztiere stapfen. Die Bewohner der Städte und Dörfer kippen auch ihr Nachtgeschirr kurzerhand in die Gosse – oder entleeren sich einfach an Ort und Stelle. Kanalisation? Fehlanzeige. Hygiene? Häh? Dem Ungeziefer im Bett glaubt man, mit alten Heringsköpfen zu Leibe rücken zu können: Wegen des Gestanks würden die Wanzen schon weichen.

Die Geschichte der Hygiene ist geprägt von beachtlichen frühen Errungenschaften, von enormen Fortschritten, irrwitzigen Rückschlägen, überraschenden Wendungen und bizarren Auswüchsen. Ein Geflecht von nicht abgeschlossenen, parallelen Handlungen, gepaart mit einem sehr langsamen Erzähltempo. Alles Merkmale, die eine Seifenoper ausmachen. Der Begriff stammt nicht von ungefähr aus der Zeit des ersten Hygiene-Hypes in den USA: Dort lief in den 1930er Jahren eine speziell für Hausfrauen konzipierte Radiosendung, die immer wieder von Werbeblöcken der Waschmittelhersteller unterbrochen wurde.

Eine systematische Abwasserentsorgung kannten die Bewohner des heutigen Pakistans schon in der Bronzezeit vor 2500 Jahren. Genauso erstaunlich ist, dass sich eine so sinnvolle Konstruktion hierzulande erst im 18. Jahrhundert allmählich durchsetzt. 1739 ist Wien als erste Stadt Europas vollständig kanalisiert. Zuvor hat die Cholera regelmäßig Tausende in den wachsenden Metropolen dahingerafft. Hatte die Indus-Zivilisation den Zusammenhang zwischen Dreck und Krankheit so viel früher begriffen?

Juden, Moslems, Hindus – viele große Religionen kennen uralte komplexe Reinigungsrituale. Für Christen hingegen stand die Reinheit der Seele lange an höchster Stelle – befleckte Exemplare konnten schließlich nachträglich im Fegefeuer ultrahocherhitzt werden. Auf Erden jedoch richtet zu viel Reinlichkeit leicht das Gegenteil an, zumindest aus Sicht der (nach außen hin) nicht unbedingt körperfreundlichen Kleriker, die unreine Berührungen und ebensolche Gedanken fürchteten. „Ein sauberer Körper und ein sauberes Kleid bedeuten eine unsaubere Seele“, belehrte etwa die heilige Paula von Rom (347 - 404) ihre Nonnen. Die Vorstellung einer heilsamen Vernachlässigung des Leibes wird erst mehr als tausend Jahre später aufgegeben.

Dabei waren die Zeiten schon durchaus gepflegter gewesen. Wie vieles andere übernehmen die Römer eine hohe Badekultur von den Griechen, auf die auch der Begriff Hygiene zurückgeht. Hygieia hieß die Götting der Gesundheit. Nur kannten die Römer eben nicht jenes Maß, das die Hellenen ausgezeichnet hatte. In den mindestens 170 öffentlichen Bädern allein in Rom gerät Hygiene recht bald zur Nebensache. Feucht-fröhliche Vergnügungen ganz anderer Art ziehen Männlein wie Weiblein in die Badehäuser. Es gibt Historiker, die behaupten, dass es auch dieser Verfall der Sitten war, der den Untergang des römischen Reichs beschleunigte. Was eine Nation aus gestählten Legionären einst schuf, habe ein Volk von Warmduschern nicht bewahren können.

Jedenfalls vergehen Jahrhunderte, bis die Wonnen des Waschens gesellschaftlich wieder etabliert sind. In der Zwischenzeit, während die Fließend-Wasser-Kultur der einstigen Besatzer zerfällt, muss man sich die Germanen allerdings keineswegs als Horde verlauster Zausel vorstellen. Unsere Vorfahren mischen sogar im Gegensatz zu den Römern, die derartiges kaum kennen, aus Asche und Ziegentalg etwas, was sie „seipfa“ nennen, sie baden in Bächen, und sie führen Hygieneutensilien wie Pinzetten, ein Löffelchen zum Entfernen von Ohrenschmalz sowie Gegenstände zum Reinigen der Nägel mit sich. Dennoch: Adrett ist anders, zumindest aus heutiger Sicht.

Ausgerechnet von den „Ungläubigen“ kann sich das christliche Abendland nach der ersten Jahrtausendwende in Sachen Hygiene eine Scheibe abschneiden. Kreuzfahrer bringen im zwölften Jahrhundert die Annehmlichkeiten des Hamams, des Dampfbads, in dem Muslime an Körper und Seele entspannen, aus dem Orient in die aufblühenden Städte Europas, wo die Zahl der neu errichteten Badehäuser stetig steigt. Sie dienen bald auch als Gesundheitszentren, wo der Barbier Haare schneidet, der Bader kranke Zähne ausreißt.

Natürlich verwandelt sich ein Teil dieser Anstalten abermals zügig in Orte exzessiver Ausschweifungen. Schon sehen Sittenwächter Sodom und Gomorra in manch schmucker Stadt heraufziehen, da bereitet eine Katastrophe auch den Sündenpfuhlen jener Zeit ein jähes Ende: die Pest, Gottes Strafe.

Für die Hygiene hat das dramatische Folgen. Zwar gilt schon im Spätmittelalter die Annahme, dass menschliche Kontakte den Nährboden für Epidemien darstellen. So erweist sich die Quarantäne seit dem späten 14. Jahrhundert als probates Mittel, Seuchen einzudämmen, Kranke werden von der Gemeinschaft isoliert – erstaunlich bewährte Maßnahmen, an denen sich bis heute nichts geändert hat. Alsbald jedoch entsteht die krude These, Baden schwäche den Körper, Wasser mache die Haut durchlässig für schlechte Einflüsse aus der Luft und damit anfällig für Krankheiten.

Allein durch verstopfte Poren, so die zeitgenössische Expertenmeinung angesichts grassierender Epidemien, ließen sich die Körpersäfte im Gleichgewicht halten. Die Bedeutung dieser Balance ist schon im antiken Griechenland gepriesen, aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom deutschen Pathologen Rudolf Virchow als wissenschaftlich unhaltbar entlarvt worden. Aber in seiner 1651 erschienenen „Anatomie der Melancholie“ behauptet der Oxforder Gelehrte Robert Burton noch, dass Bäder die Körpersäfte verderben und zur Verstärkung der Schwermut, ja des Wahnsinns beitragen könnten. Das berüchtigte Ergebnis: Die Zeit zwischen dem ausgehenden 16. und dem frühen 18. Jahrhundert dürfte zu den schmuddeligsten Epochen in der Geschichte Europas zählen. Die Menschen, vor allem die Oberschicht, meiden das Waschwasser beinahe wie der Teufel das geweihte. Zu mehr als zweimal baden – im Leben – findet sich etwa der Sonnenkönig Ludwig XIV. nicht bereit. Wer es sich leisten kann, pudert oder ölt, doch was den Gestank betrifft, waren Standesunterschiede vermutlich kaum noch auszumachen.

Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist die Medizin in der Lage, die Funktion der Haut als Atmungsorgan richtig zu bewerten. Experimente mit geteerten Pferden, die daraufhin elendig krepieren, liefern beeindruckende Beweise. Von da an vollzieht sich eine hygienische Kehrtwende um 180 Grad.

Es ist das Zeitalter der Aufklärung. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) fordert: „Zurück zur Natur!“ Das markiert den Beginn einer neuen Körperkultur. Eine Renaissance des Bades bricht an. Übler Geruch wird zum Erkennungsmerkmal der Armen. Doch erst der Siegeszug der Wissenschaften vermag das Gedankengebäude zu entstauben und ordentlich zu durchlüften, in dem die Vorstellung von den Ursachen der Krankheiten für Jahrtausende wohnte.

Zwar hatte schon der Veroneser Girolamo Fracastoro (1478-1553) vermutet, Infektionen könnten bei Kontakt oder sogar über die Luft durch winzige „animalcula“, Tierchen oder Keime, übertragen werden. Und tatsächlich erblickt der niederländische Optiker Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723) diese Mikroorganismen später unter seiner Vergrößerungslinse. Doch die Bedeutung von Bakterien wird erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollends erkannt. Noch bevor das geschieht, hat Ignaz Semmelweis (1818-1865) den Grundstein für die moderne Hygiene gelegt, indem er das Händewaschen zur Pflicht für alle Geburtshelfer macht und Tausende Mütter vor dem gefürchteten Kindbettfieber bewahrt.

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts ist die Medizin einen Riesenschritt weiter. Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring oder Louis Pasteur stehen für bahnbrechende Verbesserungen der Lebensumstände durch mehr Hygiene. Deutschland ist führend in diesem Bereich der Forschung, doch es sollte auch den Begriff der Hygiene furchtbar pervertieren. Die Nationalsozialisten erheben die „Rassenhygiene“ zur Staatsdoktrin, „rassisch minderwertiges“ Leben wird systematisch verfolgt und vernichtet.

Ende des 19 Jahrhunderts stößt der deutsche Chemiker Adolf Mayer schließlich in einen Bereich vor, der die Forscher bis heute vor enorme Herausforderungen stellt: Mayer entdeckt Erreger, die noch kleiner sind als Bakterien. Ihre Art wird bald allgemein unter jenem Namen bekannt, den der römische Gelehrte Cornelius Aulus Celsus im ersten Jahrhundert nach Christus für den Speichel eines tollwütigen Hundes verwendete: Virus.

Heute, zumal in diesen Tagen, befinden wir uns in einem täglichen Kampf gegen den Schmutz und jene Kleinstlebewesen, deren Existenz erst seit einem Wimpernschlag der Geschichte bekannt ist. Die Waffenarsenale in den Drogeriemärkten sind phänomenal, die mancher Haushalte gewaltig. Es riecht nicht länger nach Weihrauch, sondern nach Desinfektionsmittel. Durch Hygiene sind viele beeindruckende Schlachten gewonnen worden. Der Krieg allerdings… Drücken wir es etwas weniger martialisch aus: Die Seifenoper geht weiter.

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