Schlicht, klar und zeitlos

TRIER. Klassisches Ballett in moderner Bewegungssprache zu erzählen: Dass das funktioniert, beweist Sven Grützmacher eindrucksvoll mit seiner neuen Produktion "Giselle", deren Premiere vom Trierer Publikum begeistert gefeiert wurde.

Giselle? Das ist doch dieses Ballett mit dem putzigen Dorffest und den netten Bauernkostümen. Und mit dem reichen Herzog und dem armen Winzermädchen. Und mit dem üppig-düsteren Wald und den malerisch-gruseligen Rache-Feen. Nein, ist es nicht. Und braucht es auch nicht zu sein. Sven Grützmacher erzählt die Geschichte von Liebe, Täuschung und Tod so schlicht, klar und zeitlos, dass sich die Bilder stärker einprägen als bei manch brimboriumbeladener Staats-ballett-Inszenierung. Wir sehen im ersten Bild ein Ehepaar, das nicht zusammenkommt. Albrecht (ausdrucksstark: Michael Rissmann) und Bathilde (intensiv: Hannah Ma) finden keinen gemeinsamen Rhythmus. Sie umkreisen sich, verfolgen einander, aber es ist nicht jenes spielerische Nachlaufen, das irgendwann in seliger Gemeinsamkeit endet. Er geht, sie bleibt traurig zurück. Halbstarke rollen in ihren Autos an

Es sind einleuchtende, einfache Chiffren, die Grützmacher immer wieder findet. Auf dem Dorfplatz rollen die halbstarken Jungs in ihren Autos an. Ausstatterin ÄNN, sparsam in ihren Mitteln aber höchst effektvoll, hat sie in groteske, an Autoscooter erinnernde Seifenkisten gesetzt, eine Hand am Steuer, die andere zum imaginären Fenster herausgelehnt. Pubertäres Balzverhalten dominiert - wer je auf einer Kirmes oder einem Weinfest war, trifft vieles wieder, was er kennt. Das ist mit mildem Spott choreographiert, fast liebevoll stilisiert - und sehr nah an der Tanz-Pantomime, die Adolphe Adam geschrieben hat, bevor Giselle zum Repräsentations- und Ausstattungsstück mutierte. Und das Orchester macht prächtig mit. Dirigent Christoph Jung musiziert die schenkelklopfenden Bauerntänze genussvoll aus und setzt auf die Szenerie noch den einen oder anderen drauf, ohne die Bühnenhandlung zu überflügeln. Es wird auch nie Parodie, dafür sorgt schon das zweite Paar - wieder eines, dessen Körpersprache zeigt, dass es nicht zusammenpasst. Der halbstarke Macho Hilarion (kraftvoll: Dennis Burda) bedrängt die sensible Giselle (feinfühlig und bewegend: Natalie Grinyuk). Als Albrecht eher zufällig vorbeikommt, haben sich zwei gesucht und gefunden. Das Mädchen in Rot und der junge Mann in Blau wissen, dass sie füreinander geschaffen sind, aber die graue Dorfgemeinschaft gibt der unpassenden Beziehung keine Chance. Die Jungs vermöbeln Albrecht, Giselles Mutter (mit prägnanter Strenge: Natalie Galitskii) stellt ihr die Koffer vor die Tür. Als sich Albrecht dann doch für seine Frau entscheidet, unternimmt Giselle einen Selbstmordversuch. Im märchenhaften Original landet sie darob in einer Feenwelt. Grützmacher lässt das Geschehen stattdessen als Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod ablaufen, wie man es aus Schilderungen von Nahtod-Erlebnissen kennt. In ihrer Fantasie erlebt sie, wie Hilarion von geisterhaften Bräuten (Grützmacher lässt sie - tolle Idee - gleichberechtigt von Männern und Frauen in identischen Kostümen verkörpern) "totgetanzt" wird - noch ein vorwärtstreibendes Glanzstück des Orchesters, gepaart mit einem superben Auftritt von Natalia Burgos-Macia als "Ober-Fee" Myrtha. Ihren Geliebten Albrecht kann Giselle vor dem gleichen Schicksal bewahren, um ihn doch am Ende mit Bathilde zurückzulassen. Aus ihrem Todeserleben geht sie gestärkt hervor - und künftig ihre eigenen Wege. Da hat sich Grützmacher denn doch recht weit von Adams äußerlicher Handlung entfernt, nicht aber von der Musik, die zu jedem Zeitpunkt eine stringente Einheit mit dem Bühnengeschehen bildet. Zu Recht darf sich das Orchester am Ende in voller Formation auf der Bühne zeigen und seinen Anteil an den ausgiebigen, die vorgesehene Applausordnung sprengenden Ovationen abholen. Sie gelten ebenso dem starken Ensemble (Corinna Siewert, Lidia Velagrasa, Reveriano Camil, Alexander Galitiskii, Rene Klötzer, David Scherzer). Weitere Vorstellungen: 3., 12., 15., 25, 28. November; 3., 8., 26. und 30. Dezember. Karten: 0651/7181818.

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