Schuld war nur die Bossa Nova

São Paulo · Wer Ende der 1950er Jahre die Zukunft erleben wollte, musste nach Brasilien reisen. Dort gab es nicht nur den spielerischsten Fußball und die modernste Architektur, sondern auch die aufregendste Musik, die Bossa Nova. Ein Rückblick auf eine magische Zeit.

São Paulo. Die Revolution kam auf leisen Sohlen. Kein einziger Schuss fiel. Es gab weder Tote noch Verwundete. Und statt "Nieder mit dem Regime" (wie es Fidel Castro und Che Guevara in Kuba taten) riefen die brasilianischen Revoluzzer "Schluss mit der Sehnsucht" ("Chega de Saudade"). Um genau zu sein: Sie riefen es nicht, sie flüsterten es. Wehmut statt Wut. Doch die Wirkung war einschlagend. Über Nacht übernahm die Bossa Nova die musikalische Herrschaft in Brasilien.
Neu entdeckte Leichtigkeit


Wir schreiben das Jahr 1958. Während der Rest von Südamerika einem beinharten Machotum frönt, entdeckt Brasilien die Leichtigkeit. Auf dem Fußballplatz dribbeln Pele und Garrincha die gegnerischen Abwehrreihen schwindlig und werden Weltmeister. In der neu gegründeten Retortenhauptstadt Brasilia tritt Architekt Oscar Niemeyer den Beweis an, dass man mit massivem Beton luftig und schwerelos bauen kann. Die Wirtschaft blüht, das Land erlebt einen Aufschwung. Unter diesen Umständen kann es sich auch die Politik erlauben, die Zügel lockerer zu lassen. Staatspräsident Juscelino Kubitschek regiert nach der Devise "Alles kann, nichts muss." So wird Brasilien zum lässigsten und modernsten Land der Welt.
In einem derart tiefenentspannten Klima fällt es auch sensibleren Gemütern leicht, sich zu entfalten. Antônio Carlos Jobim schreibt eine Reihe melancholischer Lieder, die wie ein Gegenentwurf zur lärmigen Karnevalsmusik namens Samba klingen, darunter auch "Chega de Saudade". Der Song floppt zunächst.
Doch ein Jahr später vertont der 27-jährige João Gilberto diese und weitere Jobim-Kompositionen und löst damit ein musikalisches Beben aus. Das hat es bis dato nicht gegeben: Dass ein scheuer, introvertierter Mann ohne Sambatrommeln, nur mit einer Wandergitarre bewaffnet, auf die Bühne geht, weltvergessen ein wenig zupft und dazu schwermütige Lieder haucht.
Doch das Wunder geschieht: Ausgerechnet Gilberto, der eher an Dustin Hoffman in "Die Reifeprüfung" erinnert als an Che Guevara, wird zum Anführer einer ganzen Musikergeneration. Die Bossa Nova (deutsch: die neue Wella) überschwemmt Brasilien mit zahllosen Alben.
Und bald auch Nordamerika. Das Bossa Nova Festival 1962 in der New Yorker Carnegie Hall wird zu einem Triumph. Plötzlich will jeder Brasilianer sein. Sogar Frank Sinatra, der 1967 mit Antonio Carlos Jobim ein Bossa-Nova-Album einsingt. Gilberto empfindet dies als Hochverrat. Doch zu diesem Zeitpunkt ist Brasilien ohnehin wieder eine stinknormale Militärdiktatur geworden. Und Bossa Nova ist nur noch die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit, in der alles möglich schien.
Lesetipps: "Hobalala: Auf der Suche nach João Gilberto" von Marc Fischer, "Bossa Nova - The Sound of Ipanema: Eine Geschichte der brasilianischen Musik" von Ruy Castro und Nicolai von Schweder-Schreine.
Musiktipps: "Chega de Saudade" von João Gilberto, "Samba Esquema Novo" von Jorge Ben, Antônio Carlos Jobim: "Wave"

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