Sensible Suche nach der eigenen Identität

Trier · Über welch erstaunliche Ausdruckskraft und Bühnenpräsenz er verfügt, zeigte Urs Dietrich am Sonntagabend einem begeisterten Publikum auf der Nebenbühne des Theaters. Mit dem von ihm choreographierten Solotanzstück "Thalamus" stellte sich der neue "Artist in Residence" der Sparte Tanz in Trier vor.

Trier. Er ist auch mit bald 57 Jahren noch immer ein großartiger Tänzer. Dort unten steht Urs Dietrich auf der fast leeren Bühne. Der grau-schwarze Raum, den der Künstler gemeinsam mit Al-fred Peter als Bühne eingerichtet hat, ist in seiner nüchternen Kargheit gleichermaßen Labor, Experimentierfeld und Schauplatz einer beängstigenden Leere.Grauer Block gibt Halt


Darin ist Urs Dietrich auf der Suche nach sich selbst. Als einziges Requisit steht mitten im Raum ein langgezogener grauer Block. Er ist Zentrum, Angelpunkt und Halt des Geschehens. Und nicht zuletzt erinnert er an die Sarkophage der Antike.
"Thalamus" heißt das Stück des Choreographen und Tänzers nach jener Region im Zwischenhirn, in der Sinneseindrücke aller Art aufgenommen, bewertet, sortiert und weitergeleitet werden. Kurz jenes Gehirnareal, mit dessen Hilfe sich Wahrnehmung zu Bewusstsein und Reaktion verdichtet. Ein komplex verschaltetes Bewusstsein, das gleichermaßen von außen wie innen gesteuert wird und in dem wir weithin fremd sind, wie die aufmerksamen Zuschauer an diesem Abend erfahren.
Dietrichs tänzerische Suche nach der eigenen vielteiligen Identität hat geradezu etwas Kafkaeskes. Bin ich Mensch oder Maschine, fragen seine ungelenken, scheinbar von unsichtbarer Hand gesteuerten Bewegungen. Staunend wie ein kleines Kind entdeckt er seine Hände und Füße und testet ihre Beweglichkeit. Wenn ihn später der Rabenschrei schreckt oder fernes Flugzeugrollen seinen ganzen Körper erschüttert und zum Zittern bringt, gleicht er Schuberts einsamen Wanderer auf der Winterreise, heimatlos in der Welt und im eigenen Körper.Tanzender Philosoph


Die Jacke, die fest am Körper liegt, bietet ihm Schutz wie eine zweite Haut. Und doch ist er auch mit ihr nicht wirklich vertraut. Das existenzielle Thema des Menschen, der sich selbst zu begegnen und zu finden sucht, ist ein Dauerthema der Moderne. Als quasi tanzender Philosoph verhandelt es der sensible Schweizer in seinen Bewegungen. Dazu erklingt die Musik von Gerhard Stäbler, der übrigens im Rahmen der Opening Festivals zur aktuellen Klangkunst viele Male in Trier zu Gast war.
Dietrich ist ein faszinierender Sucher. Die Ausdrucksvielfalt seiner Körpersprache, die Feinnervigkeit seiner Bewegungen sind Teil einer kunstvoll gestalteten Partitur der Bewegung. Der in Berlin lebende Tänzer versteht sich gleichermaßen auf das kurze abgehackte Staccato wie auf das geschmeidige fließende Legato. Das Flirren jeder Muskelfaser sitzt, wenn sein Körper vom Schrecken geschüttelt wird. Mit eindrucksvoller Dynamik hält er den Spannungsbogen.
Ob er sich am Ende gefunden hat? Die Frage muss offenbleiben. "Ich wünschte, ich würde später auch so ein guter Tänzer", sagt nach der Vorstellung bewundernd der junge Mann auf dem Platz nebenan. Wie sich herausstellt, ist er ein Mitglied des neuen Tanzensembles.
Zum Schluss gibt es viel Applaus im leider nur zu drei Vierteln vollen Saal.

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