Singende Tänzer und tanzende Sänger

Luxemburg · Im Luxemburger Grand Théâtre hat am Mittwoch die Tanztheater-Inszenierung "Cesena" von Anne Teresa de Keersmaeker ein geteiltes Echo gefunden. Zahlreiche Zuschauer verließen vorzeitig den Saal, viele waren jedoch begeistert. Die moderne, radikale Inszenierung präsentierte Tanz und Gesang auf höchstem Niveau.

Luxemburg. Das Publikum ist begeistert. Oder verstört. Oder verärgert. Das neueste Werk der weltberühmten belgischen Tanztheater-Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker polarisiert. Beim Theaterfestival in Avignon wurde "Cesena" (benannt nach einem kleinen italienischen Ort, in dem der spätere Papst Clemens VII. ein Massaker anrichten ließ) gefeiert - in Luxemburg war man in dieser Woche geteilter Meinung.
Das Grand Théâtre ist von Anfang an nicht ganz gefüllt und bis zum Ende der Vorstellung kommen weitere leere Plätze dazu. Einige Dutzend Zuschauer verlassen teilweise fluchtartig, mitten in der Aufführung, den Saal. Kein guter Stil, sicherlich; aber was Keersmaeker mit ihrer Compagnie Rosas und den Sängern von Björn Schmelzers Graindelavoix aus Antwerpen auf die Bühne bringt, ist so ganz andersartig als das, was man gemeinhin unter Tanztheater versteht. 19 Akteure befinden sich ständig auf der großen Bühne, die Tänzer singen, die Sänger tanzen.
Weltklassestimmen


Mittelalterliche Choräle aus dem 14. Jahrhundert, der Epoche der Ars Subtilior, erklingen, berückende Stimmen bis hin zum Countertenor, allesamt Weltklasse. Allerdings sind das keine eingängigen Melodien, vieles klingt monoton. Als Bühnenbild reicht ein großer, gekalkter und verwischter Kreis - Minimalismus pur. Und dann das Licht: Während der ersten vierzig Minuten herrscht Dunkelheit, nächtliche Schwärze, ein einziges Deckenlicht lässt die Bewegungen nur erahnen, die Musik und die Geräusche der scharrenden Füße und fallenden Körper rücken in den Focus. Dann wird es heller, auch im Zuschauerraum. Der Morgen bricht an. Das Stück handelt von der Geburt eines neuen Tages, von dem neuen Blickwinkel, den er bietet.
Einen anderen, neuen Blickwinkel bieten auch die sensationellen Tänzer, ausgefeilte Choreografien, ungewöhnliche Ausdrucksformen, es wird gerannt, gesprungen, gewälzt, gespreizt, oft ganz ohne Musik, Reduktion auf den Körper. Fernab von aller Klassik ist pure Avantgarde zu bestaunen - oder man ärgert sich und geht. Viel Gemurmel auf den Rängen, unruhig rutschen die Zuschauer in ihren Sesseln, es wird getuschelt. Unbeirrt zieht Anne Teresa de Keersmaeker ihre Kreise, Björn Schmelzers Graindelavoix singen sich die Seele aus dem Leib. Diese Intensität ist zu spüren, verstörend einerseits, faszinierend andererseits. Aber nicht schön oder gar berührend im hergebrachten Sinne. Kräftiger Applaus, mancher rührt keine Hand, einige applaudieren stehend.

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