Theater So wird eine uralte Geschichte topaktuell

Luxemburg · Mit den 2500 Jahre alten Tragödien des Ödipus von Sophokles gelingt dem Luxemburger Grand Théâtre eine fulminante, bild- und sprachgewaltige Inszenierung mit erschreckend aktuellen Bezügen.

 Jaqueline Macaulay glänzt als selbstmörderische Iocaste.

Jaqueline Macaulay glänzt als selbstmörderische Iocaste.

Foto: DT

Sophokles‘ 2500 Jahre alte – und immer noch hochaktuelle – Trilogie um die tragische Geschichte des Ödipus (König Ödipus, Ödipus auf Kolonos, Antigone) an einem Abend, in zweieinhalb Stunden zu erzählen, das scheint in der Tat eine Herkulesaufgabe zu sein. Dem stellen sich mutig der renommierteste Regisseur des Landes, der Gründer des Théâtre National und langjährige Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Frank Hoffmann und sein kongenialer Dramaturg Florian Hirsch.

Sie verweben die Familiengeschichte des Hauses der Labdakiden zu einem bildgewaltigen und von hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern getragenen Opus Magnum, das die großen Fragen der damaligen, wie auch der heutigen Zeit verhandelt.

Ödipus, der einer Weissagung gemäß und ohne es zu wissen, seinen eigenen Vater Laios tötet und mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder zeugt, steigt zum Herrscher im antiken Theben auf und sticht sich die Augen aus, als er seines Schicksals gewahr wird. Sein Schwager (und Onkel) König Kreon übernimmt die Macht und gerät über den Erbfolgekrieg der Söhne des Ödipus, Polyneikes und Eteokles, in Konflikt mit deren Schwester Antigone, die Polyneikes, trotz Kreons Verbot, weil der die Stadt angegriffen hatte, beerdigen möchte. Am Ende gibt es keine Sieger, alle sind tot oder dem Wahnsinn verfallen, nur Ismene, Ödipus zweite Tochter überlebt und -so wird es in dieser Inszenierung angedeutet- übernimmt die Macht in Theben.

Die Geschichte um Vatermord und Inzest, um Verrat, Missverständnisse, die Hybris der Herrschenden und vor allem um die Unausweichlichkeit des -von Orakeln (wie heutigen Wissenschaftlern?) prophezeiten- Schicksals, wird seit Jahrtausenden immer und immer wieder erzählt; die aktuellen Ereignisse um Klimakatastrophe, Seuchen und Krieg zeigen, wie aktuell das im Jahr 2022 noch ist.

Schmerz, Blut und Liebe sind der Stoff, aus dem griechische Tragödien gestrickt sind, und all‘ dies wird im Übermaß geboten. Große Stoffe brauchen, so der Intendant des Grand Théâtre, Tom Leick, auch eine im Wortsinn große Bühne, die in diesem Fall der Leipziger Bühnenbildner Ben Willikens (Mitarbeit Bernhard M. Eusterschulte) als Metapher der menschlichen Befindlichkeiten gestaltet. Große, graue Quader und Wände, angedeutete Fassaden und sparsame, aber eindrückliche Dekors bieten einen monochromatischen Bilder-Rahmen, der wahrlich kolossal ist und dabei viel Platz für das physische Spiel der Akteure, aber auch für Interpretation lässt. Punktgenau gesteuerter Bühnennebel, akzentuierte, beeindruckende Lichteffekte (Daniel Sestak) und der minimalistische, aber dennoch pompöse und perfekt getimte Sound von René Nuss tun ein Übriges.

Die seit langer Zeit erste, aufwändige Eigenproduktion für das große Haus des Grand Théâtre Luxemburg stand ursprünglich im Januar zur Premiere an, wegen eines Corona-Falles im Ensemble musste sie aber nach der Generalprobe abgesagt werden. Nun blieben gerade einmal 48 Stunden, um das Team für die kurzfristig anberaumte, neue Premiere am Sonntagabend bühnenreif zu proben. Ein Parforceritt, der die Akteure an ihre Grenzen trieb und vielleicht gerade deswegen so beeindruckend geraten ist.

Das Ensemble aus hochberühmten Arrivierten und hochtalentierten, jungen Schauspielerinnen und Schauspielern zu loben hieße – und in diesem Fall passt einmal das abgeschmackte Bild – Eulen nach Athen tragen.

Wolfram Koch als Kreon ragt mit seiner Kraft, kunstvollen Spielfreude und seinen Ideen heraus. Nur ein Detail: Bei seinem ersten Auftritt befindet sich seine rechte Hand immer leicht oberhalb der rechten Hüfte, eine bittere Reminiszenz an den (damals stets mit einer Pistole bewaffneten) Ex-Geheimdienst-Offizier und jetzigen Angriffskrieger Wladimir Putin. Er geht wie Putin bei seinen Auftritten, er verkörpert die Überheblichkeit der Macht und die darunter liegende, tiefe Unsicherheit, bevor er am Ende seine Fehler vermeintlich bereut und vollends zusammenbricht.

Jacqueline Macauley ist eine Iokaste und Euridyke voller Wunder. Sie spielt diese zunächst ganz selbstsicheren, aber dann gebrochenen und traumatisierten Frauen mit einer fast lakonischen Verve, dass es einem heiß und kalt den Rücken herunterläuft. Überragend ihr Monolog (den im Original der Bote hält) in dem sie in der dritten Person ihren Selbstmord durch Erhängen deklamiert. Christian Clauß als Haimon (der Sohn des Kreon und Verlobte der geopferten Antigone) rührt an, Marie Jung ist eine überzeugende und kraftvolle Antigone mit vielen Farben. Maik Solbach ist ein energiegeladener Ödipus, dem vor allem die Darstellung des verzweifelten und gebrochenen Mannes wunderbar gelingt. Nickel Bösenberg als Bote, Sara Grunert als Ismene und Marco Lorenzini als Seher fügen sich überzeugend in diese Phalanx ein.

Unverzichtbar und glaubhaft als Chor, der den Finger immer wieder in Wunden legt, sind Annette Schlechter, Roger Seimetz und Ulrich Kuhlmann. Großer und verdienter Applaus der gut 200 Zuschauer für alle Akteure.

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