Tanzen am Abgrund

TRIER. Sorgfältige Erzählweise, unkonventionelle Bilder, die Beteiligten in Hochform: So zeigte sich die in den Wirren der französischen Revolution spielende Oper "Andrea Chenier" von Umberto Girodano bei der Premiere am Sonntag im Trierer Theater.

Eine Oper ist eine Art Festmenü mit vielen Komponenten. Orchester, Dirigent, Chor, Solisten, Regie, Bühnenbild, Kostüme: Wenn eine der Zutaten nicht stimmt, will sich das Glücksgefühl nicht recht einstellen. Abende, an denen wirklich alles passt, sind selten, vor allem an kleinen Häusern, wo man mit dem kochen muss, was in der Küche vorrätig ist, statt teuer am Markt einzukaufen, was man gerade braucht. Um so eindrucksvoller, wenn die Küchenchefs mit klugem Konzept, konzentrierter Professionalität und reichlich Fantasie ihrem Publikum ein Drei-Sterne-Menü servieren. So wie bei "Andrea Chenier". Da hat alles Hand und Fuß, da wird jeder szenische Gedanke zu Ende gedacht, da gibt es keine Beliebigkeit, aber auch keine routinierte Abwicklung. Da fügen sich die Dinge zusammen zu einem stimmigen und stimmungsvollen Gesamtbild. Regisseur Bisser Schinew ist kein Mann der kühnen Ideen, sondern einer der feinen Details. Er erzählt keine Polit-Parabel, sondern die Geschichte zweier schicksalhaft Liebender, denen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen keine Chance lassen. Eine Revolution, hoffnungsvoll und berechtigt begonnen, verkommt zur perversen Volksbelustigung, bei der am Ende die Spitzel über die Idealisten herrschen und jeder sein erbärmliches Geschäft mit dem Elend macht, selbst die alte Frau, die ihren Enkel für das Schlachtfeld verschachert.Unkonventionelle Lösungen

Schinews Sichtweise dekonstruiert das Stück nicht. Aber sie findet szenische Lösungen, die alles andere als konventionell sind. Das liegt am Zusammenwirken mit Bühnenbildner Francois Valentiny, der viel wagt und alles gewinnt. Gemeinsam und nicht zuletzt unter Einbeziehung der Kostüme von Carola Vollath - schaffen sie magische, symbolträchtige Bilder: Der dekadente Adel haust in einer abstrusen Märchenwelt weitab der Realität, zur Karikatur verkommen, dem Untergang blind entgegentanzend, noch schnell eine Gavotte am Abgrund. Dann, nach dem Umsturz, die Dekadenz der Revolution. Die Siegessäule mutiert zur Kultstätte, an deren Fuß das Volk Blumen niederlegt, während oben von Bild zu Bild immer mehr Spieße herauswachsen, auf denen die Köpfe der Opfer zur Schau gestellt werden. Unermüdlich tippt der Spitzel seine Protokolle, die Soldaten verhaften den Flötenspieler: Kein Platz mehr für Künstler, kein Platz mehr für Denker im unerbittlichen "Für uns oder gegen uns" der Revolution. Am Ende schließlich: Nur noch spitze Dornen in einer düsteren, unwirtlichen Welt, der Andrea Chenier, der Dichter, und seine Geliebte Maddalena durch den gemeinsamen Tod zu entkommen hoffen. Da lässt die Regie einen blitzenden Funken Hoffnung, von dem man freilich nicht weiß, ob er nur das Mündungsfeuer der Gewehre bei der Exekution ist. Das lässt niemanden kalt. Aber die atemlose Spannung im Publikum hat auch damit zu tun, dass in dieser Inszenierung zweieinhalb Stunden lang jeder einzelne Akteur weiß, was er tut - und warum. Selbst die kleineren Rollen (ausnahmslos gut: Evelyn Czesla, Eva Maria Günschmann, Angelika Schmid, Juri Zinovenko, Horst Lorig, Andreas Scheel, Peter Koppelmann, Thomas Schobert) und die Chorszenen (sogar choreographisch sattelfest: die Damen) sind präzise ausgearbeitet und darstellerisch wie sängerisch höchst präsent.Für das Orchester ist "Andrea Chenier" ein musikalischer "Elfmeter". Aber auch den muss man erst einmal mit solcher Grandezza verwandeln wie István Dénes und seine Philharmoniker. Das Spektrum umfasst vom hauchzarten Einstieg in die berühmte Arie "Un di all'azzuro spazio" bis zur mit Schmackes dahingeschmetterten Revolutionshymne "Ca ira" eine Fülle differenzierter musikalischer Ausdrucksvarianten. Manchmal gehen lautstärkemäßig ein bisschen die Pferde durch, aber wieso auch nicht, wenn man zwei solche Stimm-Riesen zur Verfügung hat wie Vera Wenkert und Gor Arsenian. Dabei verzaubert Wenkert nicht nur, wie man es kennt, mit der schieren Kraft, sondern mehr als je zuvor mit Innigkeit und Präzision. Da ufert nichts mehr aus bei den hohen Tönen, und so gerät etwa die Arie "La Mamma morta" zu einem Moment, der manche - und manchen - im Saal unauffällig zum Taschentuch greifen lässt. Gor Arsenian glänzt in einer Partie, die seine Fähigkeiten optimal zum Leuchten bringt: Wuchtige, kraftvolle Spitzentöne, bedingungslose Verve. Unüberhörbar auch das Bemühen um leisere Töne. Der Chenier ist, mit Otello zusammen, fraglos der Höhepunkt seiner Trierer Jahre. Auch Laszlo Lukacs, als reuiger Revolutionär Carlo Gerard die inhaltliche Schlüsselfigur der Oper, knüpft an Glanzzeiten an. Darstellerisch überzeugend, mit genauem Parlando und höchster stimmlicher Konzentration, meißelt er eine glaubwürdige, spannende Persönlichkeit heraus. Am Ende minutenlange Ovationen für alle Beteiligten. Vielleicht wird daraus die dringend benötigte Orientierungsmarke für das Trierer Musiktheater. Weitere Fotos im Internet:

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