Theater Wenn es friert, ist es zu spät
Trier · Ulf Dietrich inszeniert „Zweifel“ des New Yorker Autors John Patrick Shanley
Ein Stück, wie für die Zeit geschrieben – punktgenau den Finger in eine seit langem eiternde Wunde gebohrt? Nicht ganz: „Zweifel“ wurde bereits vor mehr als 15 Jahren in New York uraufgeführt (und umgehend mit dem Pulitzer-Preis bedacht); zu einer Zeit, als das Thema noch nicht in dem Maße medial präsent war wie heute. Inzwischen hat sich das Problem, das zu Beginn eher im Verborgenen glomm, zum Flächenbrand entwickelt und ist ein Diskussionsthema, dem unaufhörlich neue Nahrung zugeführt wird: klerikaler Missbrauch.
Doch das ist nur ein Aspekt, der im Verlauf der Handlung fast zum nebensächlichen wird in John Patrick Stanleys als Parabel bezeichnetem Einakter. Im Vordergrund steht die Verleumdung, die einen Menschen moralisch töten kann. Und die (über)eifrige Mörderin ist in diesem Fall Schwester Aloyisus, Direktorin einer katholischen Schule in der New Yorker Bronx, die mit eisenharter Hand und ebensolchem Herzen für Zucht und Ordnung an ihrer Lehranstalt sorgt. Nicht Liebe zu den Schutzbefohlenen ist ihr pädagogisches Prinzip, sondern die buchstabengetreue Befolgung von Regeln. Mit geradezu selbstverleugnender Unmenschlichkeit spielt Barbara Ullmann diesen selbstgerechten … nun ja, Menschen, in dessen Leben es nur die Kategorien Schwarz oder Weiß gibt. Passenderweise vergleicht sie sich mit Dominosteinen (die schwarz-weißen Kostüme stammen von Yvonne Wallitzer): Fällt einer, fallen alle. Ullmanns Aloysius ist der Inbegriff sämtlicher gefühlloser Ordensschwestern, die jahrzehntelang in Kinderheimen in aller Welt ein menschenverachtendes Regiment führten.
Und nicht nur Kinder sind ihre Opfer. Die in ihren Augen geradezu libertinäre Art, mit der Vater Flynn seine Schüler behandelt, nährt in ihr den Verdacht, der Pfarrer nähere sich in unzüchtiger Absicht einem seiner Schutzbefohlenen, weil er ihn, den einzigen schwarzen (und viel gemobbten) Jungen auf der Schule in sein Pfarrbüro bittet, um ihm den Rücken zu stärken. Da er jedoch am Ende des Gesprächs eine Alkoholfahne hat, schrillen bei Schwester Aloysius sämtliche tugendhaften Alarmglocken. Paul Hess spielt den kumpelhaften Jungsversteher mit entwaffnender Frische und Sympathie, ein Kirchenmann zum Pferdestehlen, selbstbewusst, offen und geradlinig, wie man sich so einen nur wünschen kann. So einer wird doch nicht …?
Ins Rollen gebracht hat die Lawine, die den Kirchenmann zu überwältigen droht, die Junglehrerin Schwester James. Anna Pircher ist eine idealistische Pädagogin, die natürlich nur das Beste für ihre Schüler will, von denen sie vermutlich abgöttisch geliebt wird. In Gegenwart ihrer Vorgesetzten ist sie jedoch von einer ans Parodistische grenzenden Unterwürfigkeit und windet sich geradezu wurmhaft unter deren Er- und Abmahnungen. Folglich lässt sie sich von ihrer Chefin in die Rolle der Kronzeugin zwingen, die am Ende falsches Zeugnis ablegt. Doch natürlich wäre es zu simpel, wenn jeder wirklich wäre, was er zu sein scheint. Und daher arbeitet Regisseur Ulf Dietrich, der das dialogdichte Stück für das Theater Trier eingerichtet und auch das Bühnenbild geschaffen hat – der Brunnenhof als Kulisse eignet sich übrigens vorzüglich für das klerikale Ambiente dieser Parabel –, mit feinem Meißel, um Risse in die Fassaden der drei Kirchenleute zu ritzen und dabei sogar Spurenelemente von Humor freisetzt. Da gibt sich die devote Schwester James unversehens rebellisch und entschlossen; da bricht der Pfarrer beim Verhör der Direktorin zusammen und verkommt zum flehenden Bittsteller. Selbst Aloysius lässt hin und wieder eher unfreiwillig eine menschelnde Seite aufblitzen (sie war, schwer vorstellbar, vor ihrem Leben als Nonne verheiratet). Und dann ist da noch die vielleicht rätselhafteste Figur, Mrs. Muller (Davina Donaldson mit einem nur kurzen, aber sehr eindrucksvollen Auftritt), die Mutter des schwarzen Jungen: eine verzweifelte, ratlose Frau, die sich zu der ungeheuerlichen Vermutung hinreißen lässt, ihrem Sohn könnten die Treffen mit dem Geistlichen guttun, da es ihm an einer vorbildhaften Vaterfigur mangele. Was genau sie damit meint – auch das bleibt jedoch im Ungefähren.
So arbeitet der Regisseur nicht nur in seinem in jeder Minute sehr starken und präsenten Team den Zweifel heraus, der am Ende, dessen Pointe nicht verraten werden soll, bei einem Charakter in pure Verzweiflung mündet, sondern sät ihn auch unter den Zuschauern. „Wenn es friert, ist es zu spät“, erklärt Schwester Aloysius, als sie die Rosen im Garten mit Tüchern vor dem nahenden Frost schützt. Es ist bereits zu spät – der Frost hat nicht nur die Rosen zerstört.
Nach sieben vorstellungslosen Monaten ist das Theater Trier zurückgekehrt in die Öffentlichkeit. Kaum war die Premiere angekündigt, war sie auch schon ausverkauft (wie übrigens auch die noch in dieser Spielzeit folgenden). Sieht ganz so aus, als könnte Intendant Manfred Langner nahtlos an die Erfolgssträhne anknüpfen, die ihm vor mehr als einem halben Jahr aus der Hand genommen wurde. Wenn keine Mutante dazwischenkommt.
Die nächsten Vorstellungen: 18. und 28. Juni; 6. Juli; Karten: 0651/718-1818