Lesung Die andere Seite der Party-Gesellschaft

Enkirch · Episoden aus einer Nacht in Berlin: Thorsten Nagelschmidt liest in Enkirch aus seinem Roman „Arbeit“.

 Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt liest im Weingut Immich-Anker in Enkirch.

Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt liest im Weingut Immich-Anker in Enkirch.

Foto: Andreas Feichtner

Bin ich eigentlich der einzige Trottel, der mitten in der Krise ein Buch veröffentlicht? Landen dreieinhalb Jahre Recherche, Schreiben, Überarbeiten damit praktisch im Müll? Als Corona-Kollateralschaden? Solche oder ähnliche Fragen stellte sich Thorsten Nagelschmidt kurz nach Erscheinen von „Arbeit“ vor einigen Wochen. Sein Verlag – S. Fischer – hatte ihn gefragt, ob er den geplanten Veröffentlichungstermin nach hinten verschieben möchte. Bloß nicht ungelesen, unbemerkt im Off verschwinden. Schließlich waren die meisten Buchhandlungen lange Zeit dicht, wenn auch nicht in Berlin, wo der Roman spielt. Nein, verschieben wollte er nicht. Das Buch muss ins die Welt, in die Regale und Herzen. Auch wenn Neuerscheinungen in der Krisenzeit einen schweren Stand hatten.

Ende Juni hat sich die Situation etwas entspannt. Die ersten Lesungen vor Publikum hat Thorsten Nagelschmidt hinter sich. Und die Reaktionen auf seinen episodenhaften Berlin-Roman sind durchweg positiv, manche auch euphorisch: Er brauche „nur eine Nacht, um das Herz der Stadt schlagen zu lassen. ‚Arbeit’ ist der erste große Berlin-Roman des 21. Jahrhunderts“, schwärmte die Süddeutsche. Der „Rolling Stone“ verortet das „unwiderstehliche soziale Sittengemälde“ zwischen Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und „Herr Lehmann“ von Sven Regener. Und wenn man Nagelschmidt zuhört, bei seiner Lesung im Innenhof des Weinguts Immich-Anker im Moselort Enkirch, mit trockenem Riesling und Blick auf die Steillage, dann fällt einem auf, wie schade es doch ist: Ach, wie lange man schon nicht mehr in Berlin war. Mit seinem prallen Jetzt, dem Clash der Möglichkeiten. Und dem Gefühl, noch halbwegs lebendig zu sein, wenn die Nacht gerade stirbt.

Nicht, dass hier falsche Erwartungen geweckt werden: Nagelschmidt – auch als Frontmann der Punkrockband Muff Potter bekannt – schreibt keine Ode an 24-Hour-Party-People und Berghain-Touristen, die der Billigflieger oder Flixbus ausgespuckt hat. Er rückt die Menschen in den Fokus, die arbeiten müssen, wenn andere ihren Spaß haben: der Taxifahrer, der Türsteher, die Notfallsanitäterin, die Pfandsammlerin, der Drogendealer ... Insgesamt sind es 13 Protagonisten, dokumentiert in einer März-Nacht, von Abenddämmerung bis Morgengrauen. Alle sprechen, denken, träumen anders. Was sie verbindet, die 16- und 60-Jährigen, die Ur-Berliner, Zugezogenen und den Bootsflüchtling aus Guinea? „Sie alle haben eine gebrochene Biografie“, sagt Nagelschmidt, der sich aufgrund der Struktur des Romans bei der Lesung einen Luxus erlauben kann: Er liest auch das Schlusskapitel vor.

Das hat thematisch wenig mit der beschaulichen Mittelmosel zu tun, die eine andere Touristen-Klientel anzieht. Dass Nagelschmidt immer wieder zu Gast ist, liegt an Winzer Daniel Immich, der früher selbst in einer Punkband spielte. Beide verbindet eine Freundschaft, seit Nagelschmidt in Enkirch für seinen Roman „Was kostet die Welt“ (2010) recherchiert hatte, der im fiktiven Moselörtchen Renderich spielt.

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