Tiefer Traum von Liebe, Tod und Leben

Trier · Zweite Schauspiel-Premiere der Spielzeit, erste Aufführung im Walzwerk: Im "Zauberberg" nach dem Roman von Thomas Mann hat Regisseurin Christina Friedrich ihr Publikum für drei Stunden in eine magisch-morbide Traumwelt entführt. Die neue Spielstätte in der ehemaligen Industriehalle hat ihre Feuerprobe bestanden.

 Düster und verstörend: In der „Zauberberg“-Inszenierung im Trierer Walzwerk führen Regisseurin Christina Friedrich und ihr Ensemble (Bild links: Tilman Rose, Juliane Lang; rechts: Julian Michael Boine, Christian Beppo Peters) durch eine von Tod und Krankheit gezeichnete Traumwelt. Fotos (2): Kerstin Michels

Düster und verstörend: In der „Zauberberg“-Inszenierung im Trierer Walzwerk führen Regisseurin Christina Friedrich und ihr Ensemble (Bild links: Tilman Rose, Juliane Lang; rechts: Julian Michael Boine, Christian Beppo Peters) durch eine von Tod und Krankheit gezeichnete Traumwelt. Fotos (2): Kerstin Michels

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Trier. "Alles bleibt anders" - dieses Motto von Karl Sibelius' erster Spielzeit in Trier gilt auch am zweiten Premieren-Wochenende. Vor dem Tor zum ehemaligen Walzwerk fordert der Intendant die 100 Premierengäste des Schauspiels "Zauberberg" auf, sich die neue Nebenspielstätte mit der begehbaren Bühneninstallation erst einmal in Ruhe anzuschauen. Irgendwann würden sie "merken, dass das Stück beginnt".
Und so schlendern die Zuschauer vorbei an einem weißen, zur Decke aufragenden Berg aus Stühlen, an Wandgemälden von Pistolen und blutenden Herzen (Bühnenbild: Anton Unai). Dann beginnt es - mit dem Ende. Dem Ersten Weltkrieg. Der großen Katastrophe, in die Thomas Manns Geschichte über den "Zauberberg" mündet. Die Darsteller stehen zwischen den Zuschauern. Sie erzählen von Männern, die sich auf dem Schlachtfeld hinwerfen, die Gesichter im "kühlen Kot".
Was folgt ist ein fast drei Stunden langer tiefer Traum, verstörend, aber auch humorvoll. Das Publikum zieht dabei ohne festen Zuschauerraum durch die Halle, von Kulisse zu Kulisse. Es taucht mit dem Protagonisten Hans Castorp (Julian Michael Boine) ein in die von Tod und Krankheit gezeichnete Welt des Schweizer Lungensanatoriums Berghof, die Castorp nur für drei Wochen besuchen wollte, in der er sich dann aber volle sieben Jahre lang verliert. Bis der Krieg ihn zwingt, den magischen, zeit- und weltentrückten Ort zu verlassen.
Regisseurin Christina Friedrich zeigt diesen Ort als sterbenden Gesellschaftskörper, zeigt den Menschen vor der sich nahenden Katastrophe, seinen Stumpfsinn, seine Schicksalsergebenheit. Aber zugleich auch den Wunsch, das Leben zu feiern. Dafür löst sie aus der literarischen Vorlage vorrangig die Szenen heraus, in denen sich das Todgeweihte manifestiert, gegen das sich das Leben aufbäumt.Erzähler gibt Orientierung

Tiefer Traum von Liebe, Tod und Leben
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Die Texte sind zwar meist original Thomas Mann. Die Szenen folgen jedoch nicht der Reihenfolge im Roman. Zudem wechseln die Schauspieler ihre Rollen. Wer die Vorlage nicht kennt, dem dürfte es - trotz einordnender Erzählpassagen (Christian Beppo Peters) - schwerfallen, alle Zusammenhänge zu erkennen.
In einer starken Szene zu Beginn versammeln sich die Kranken des Berghofs zu einer Art Sinfonie des Leidens. In ständiger Wiederholung weinen, husten, stöhnen sie vor sich hin und pfeifen aus der Lunge. Diesen kranken Körper öffnet die Regisseurin für die Zuschauer, führt sie hinein, fordert sie auf, sich zu den Kranken ans Bett zu setzen. Und das Publikum umringt in kleinen Gruppen die Sterbenden, die sich in der Halle verteilt haben.
Dass noch Leben in ihnen steckt, beweisen sie bei der Faschingsparty. "Schenk mir noch einen Orkan vor der eisigen Bahn", singt dort eine Patientin (leidenschaftlich: Gina Haller). Und doch scheint stets die Resignation vor dem nahenden Ende durch. Lebendige Momente wie die Liebesnacht Castorps (wunderbar zart: Julian Michael Boine) mit Madame Chauchat (sehr präsent: Juliane Lang) werden gleich wieder vom allgegenwärtigen Tod gestört: Als Castorp das Zimmer der Geliebten verlässt, bespuckt ihn eine Dame (Barbara Ullmann) mit Blut.
Friedrich lässt aber auch Raum für das Helle, für den Humor, der im Roman so präsent ist. Einige Zuschauer lachen laut, als Frau Stöhr (herrlich: Ronja Oppelt) ihre Bildungslücken offenbart ("Damit gehe ich chloroform") oder als sich die Patienten zur Liegekur kunstvoll in ihre Decken einwickeln. Besonders amüsant: das Pistolenduell zwischen Settembrini und Naphta, beide mit lächerlich hohen Pelzmützen (Kostüme: Lara Scherpinski). Dafür wird ein Rolltor geöffnet, durch das die Zuschauer nach draußen auf das tödliche Spektakel blicken.
Dann schließt sich der Kreis, es ist Krieg. Der Erzähler fragt: "Wird auch aus diesem Weltfest des Todes einmal die Liebe steigen?" Das Publikum erwacht aus dem Traum, in dem es so viel über den Menschen (und sich selbst?) erfahren hat. Es erwacht - anders als die Kranken, die Karten spielen.
Das Publikum applaudiert minutenlang, obwohl ihm einiges an Kondition und Aufmerksamkeit abverlangt wurde. Auch erschließt sich nicht, warum am Ende die Exkurse über Atome und die Verdächtigkeit von Musik auftauchen, wo doch dieser philosophisch-wissenschaftliche Ballast des Romans zuvor weitgehend herausgehalten wurde. Hier hätte man straffen können. Doch anders als eine Woche zuvor bei "Molière" verlässt niemand die Halle vorzeitig.
Die Zuschauer belohnen eindrucksvolle Leistungen, auch der Musiker, die mit düster-hypnotischen Klängen die Szenen perfekt ergänzt haben (Komposition: Mark Scheibe, herausragend: Countertenor Fritz Spengler).
Die erste Premiere im Walzwerk ist ein gelungenes Gesamtkunstwerk aus stimmiger Regie und Musik, tollen Schauspielern und einer faszinierenden Spielstätte.

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