Wandelkonzert Eine zauberhafte Auszeit mitten in der Stadt
Trier · So haben wir die Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf noch nie gesehen, und so werden wir sie auch nicht mehr sehen: Die Besucher durften sich am Donnerstagabend zu Musik und Textbeiträgen frei im illuminierten, leeren Kirchenraum bewegen. Ein zauberhaft-poetisches Erlebnis mitten in Trier.
Kopfhörer auf und los! Wer die zurzeit wegen Renovierung geschlossene Kirche St. Gangolf in Trier betritt, lässt den Alltag hinter sich. Es ist wie ein Heraustreten aus der Zeit. Der früher mit Bänken vollgestellte gotische Kirchenraum ist leer und in rotes und blaues Licht getaucht, das von unten die frisch gestrichenen rötlichen Säulen und Gewölbe effektvoll illuminiert. Hier und da hat der Veranstalter, das Mosel Musikfestival, an den Säulen Stühle aufgestellt. Doch zeugen das Baugerüst vor dem wandfüllenden Lasinsky-Gemälde und die mit Tüchern verhüllten Figuren davon, dass hier noch gebaut wird. Die Kirche, seit Sommer 2020 geschlossen, soll erst Ostern 2023 wiedereröffnet werden. So wie die Besucher St. Gangolf also am Donnerstagabend vorfinden, wird man sie nicht mehr erleben können. Der Kirchenraum gibt ohne die Bänke Perspektiven frei, die Besucher sonst nie haben. Ein passender Ort für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit.
In allen 24 Text- und Musikbeiträgen, die die Gäste in 80 Minuten zu hören bekommen, geht es um die Zeit, unsere Wahrnehmung von und den teilweise absurden Umgang heutzutage mit ihr. „Ich kann jetzt nicht einfach sagen, lass uns langsamer machen“, lautet etwa der kulturkritische Beitrag von Professor Hartmut Rosa. „Eine langsame Achterbahn stürzt ab, ein langsamer Notarzt ist tödlich, ein langsames Internet ist nervig. Es geht um eine andere Art des In-Beziehung-Tretens der Menschen und Kollektive zur Welt.“ Der Bogen der Beiträge ist weit – eine sehr wilde Mischung von alter Musik und Zeitgenössischem, von lyrischen Formen und moderner zeithistorischer Analyse. Intendant Tobias Scharfenberger und Sprecherin Katja Heinrich haben zum Thema Zeit aus den Vollen der Kulturgeschichte geschöpft – ob poetisch mit Rilkes „Du fragst was ist die Zeit“, mit Shakespeares „Wenn ich den Stundenschlag der Uhr vernehme“, mit Michael Endes „Momo“-Dialogen oder musikalisch mit den berühmten Westminster-Glockenschlag nach Telemann und der monumentalen „Star Trek“-Filmmusik. Die Zeit ist der rote Faden für alle Beiträge.
Das ergreift die Konzertwandler: „Sehr schöne Musikauswahl, dazwischen zum Nachdenken anregende Texte über den Umgang mit der Zeit“, sagt etwa Besucher Michael Kiesmann aus Hockweiler. „Und das alles in einem tollen Ambiente, der farbig ausgeleuchteten Kirche St. Gangolf.“ Schmankerl am Schluss: Wer die Kopfhörer zurückgibt, wird von weit oben über eine schmale Wendeltreppe in den Turm gelockt, wo in Dauerschleife Richard Strauss‘ Zeitmonolog aus dem „Rosenkavalier“ und Hugo von Hofmannsthals „Die Zeit das ist ein sonderbar‘ Ding“ ertönen. Im leuchtend rot illuminierten alten Uhrwerk sind Spinnweben zu erkennen – da hat der Zahn der Zeit genagt. Es ist der Schlusspunkt einer zauberthaft-poetischen Reise. Ein Abend, der leider vorbei ist, von der Zeit geschluckt, einmalig, nicht wiederholbar. Aber Lust macht auf das weitere Wandelkonzert, das das Mosel Musikfestival im Programm hat (27. August). Dann zwischen all den antiken Relikten im Rheinischen Landesmuseum.
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