Über das monströse Erwachen der Kindheitsdämonen

Ein Buch, das man so schnell nicht vergisst: in Belgien ist "Und es schmilzt" bereits ein Bestseller.

Über das monströse Erwachen der Kindheitsdämonen
Foto: (g_kultur

Ein Riesenerfolg in Belgien ist er schon: Dort Platz Eins der Bestsellerlisten und mit Lob überhäuft, mit diversen Preisen ausgezeichnet. Jetzt erscheint Lize Spits Roman "Het smelt" als "Und es schmilzt" aus dem Niederländischen übersetzt auf Deutsch. Die Hauptpersonen: Kinderfreunde aus dem Dorf, die sich die drei Musketiere nennen: der Schlachtersohn, der Bauernsohn, die Alkoholikertochter. Das ist das zentrale Trio einer monströsen Kindheit der 1990er Jahre, die Lize Spit als beklemmende Rückschau inszeniert. Als Leser muss man sich allein der Ich-Perspektive des Mädchens Eva unterwerfen. Sie fährt als junge Frau aufgrund einer Einladung wieder in ihr flämisches Heimatdorf. Das ist 13 Jahre nach einem Ausbruch bestialischer Rohheit ihrer beiden Kinderfreunde: Die Jungen haben sie brutal gequält, eine Eskalation sich schon vorher andeutender Gewalt und Kaltherzigkeit. Eine Entwicklung, die an Weltliteratur wie "Lord of the Flies" alias "Herr der Fliegen" von William Golding erinnert. Etappenweise führt die Autorin den Leser zu diesem traumatischen Vorfall in Evas vielschichtiger Erinnerung zurück. Im Gegenschnitt nähert sich Eva in der erzählten Gegenwart ihrem Dorf, in dem sie Rache sprichwörtlich kalt genießen will. Dabei spielt ein Eisblock in ihrem Kofferraum eine Rolle. Das ungewöhnliche Requisit stellt einen Bezug zur einer gnadenlosen Kinderwette her, mit der das furchtbare Ende der Freundschaft begonnen hat. Diese symbolhafte Idee ist zwar bildmächtig, aber zwangsläufig durchschaubar und wirkt etwas überkonstruiert. Was auch für die Motivation zur Evas Rückreise gilt, aber das sind Details. Denn in dem Zwischenstadium zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in der die Romanhandlung verharrt, werden die verstörenden Beobachtungen einer unbehüteten Kindheit ohne jeglichen Schutz, ohne Empathie inszeniert. Wenn einem Mädchen der Spüllappen voller Essensreste ins Gesicht geklatscht wird, ein Vater dem Kind seine Erhängung ankündigt, Kinder zu Verrätern, Vergewaltigern, Selbstmördern in Jauchegruben werden, ist das die Hölle. Und genau die erlebt der Leser aus Evas Perspektive, als gäbe es kein Entkommen, mit. Geschildert wird die Kindheit mit der verzweifelten auch klugen Lakonie eines Mädchens, das zudem auch einen Blick für die absurden Details des Alltags hat. Und die Gegenwart der Erwachsenen spielt während der lebensmüden, letzten Mission Evas auf ihrem stillen und doch spektakulärem Rachefeldzug. Als verhalten verzweifelt und sehr einsam könnte man die Grundmelodie des Romans beschreiben, der dem Leser unbarmherzig den desillusionierten, scharfen Blick Evas aufzwingt. Fast ist es eine Qual, der man sich ergibt, die einen schmerzlich wie zum Voyeur werden lässt. Zum Ende bleibt eine große Leere und die Absurdität, dass Wärme zum Tod führt in einer Welt, in der die Gefühle eiskalt sind. Ein verstörendes Buch, in dem die Dämonen einer Kindheit besiegt werden sollen. Man muss mit ihm kämpfen, bis es vorbei ist. Es gibt keine Sieger, aber vergessen wird man es nicht.Sonja SuennenLize Spit, "Und es schmilzt", Roman, S.Fischer Frankfurt, 505 Seiten, aus dem Niederländischen übersetzt von Helga Beuningen, ISBN 978-3-10-397282-5, 22 Euro.Aufgeschlagen - Neue Bücher

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