Und täglich grüßt das Murmeltier

Trier · Die Börsen spielen schon wieder verrückt, die Taliban sind immer noch nicht besiegt, und Harald Schmidt ist zurück bei Sat1. Es ist, als ob die 00er Jahre nie aufgehört hätten. Ein Rückblick auf ein Jahrzehnt, das nicht enden will.

Trier. Biene Maja ist schuld. Mit ihr fing alles an. Danach kamen Kermit und Miss Piggy, dann die schnellen Autos und schließlich der Staatsanwalt. So geht - in aller Kürze - die Geschichte des Medienunternehmens EM.TV, das mit den Rechten an Zeichentrickfilmen bekannt wurde, danach überteuert die Mutterfirma der Muppets und die Formel-1-Vermarktungsrechte erwarb, Bilanzen fälschte und sich am Ende finanziell übernahm.
Und es ist die Geschichte des Neuen Markts, der viele solcher Jungunternehmen kannte, die rasant abhoben und noch schneller abschmierten. Vor allem aber ist es die uralte Geschichte der Gier. Vom Traum, ohne Anstrengung reich zu werden. Nur mit Aktien. Und zumindest am Anfang gelang dies sogar: Wer Ende 1997 mit 5000 Mark einstieg, war Anfang 2000 Millionär. Und wer Anfang 2000 mit einer Million Euro einstieg, hatte Anfang 2003 noch 5000 übrig.
Und irgendwie ist es auch die Geschichte des World Wide Web. Dass eine Nation braver Bausparer über Nacht zu tollkühnen Börsenzockern wurde, ist eine Folge des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, per Mausklick Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Das Web beschleunigte nicht nur den Wertpapierhandel, sondern auch die Kommunikation. Flatrate sei Dank konnten Leute, die seit Jahren keinen Brief mehr geschrieben hatten, endlich rund um die Uhr "chatten" und "mailen". Und flirten. Der deutsche Wortschatz wurde um die "Internetbekanntschaft" bereichert. Längst ist die virtuelle Welt ein Ort realer Annäherungsversuche. Menschen verlieben sich nicht länger in verräucherten Eckkneipen, sondern vor Computerbildschirmen.
Schamlos geschönt


Die sichere Distanz und die Gewissheit, sich jederzeit zurückziehen zu können, macht es selbst Schüchternen leicht, die Fühler auszustrecken.
Doch der Zweifel bleibt. Nicht nur Papier ist geduldig, sondern auch die Eingabemasken der sozialen Netzwerke und Partnerportale. Nirgendwo wird so unverblümt geflunkert und so schamlos geschönt wie im Web, oder sagen wir\'s netter: Imagepflege betrieben. Muss ja keiner wissen, dass das Foto im Netz schon neun Jahre alt ist und allenfalls zufällige Ähnlichkeit mit lebenden Personen aufweist. Spätestens bei der Begegnung in 3D mit Geruchs- und Tonspur - "Date" hieß das früher - tritt die Ernüchterung ein: Glamourgirl entpuppt sich als piepsende graue Maus, und Adonis hat Schuppen und Mundgeruch. Wieder ein Traum geplatzt.
Doch wir wollen nicht klagen. Eigentlich geht es uns gut. So gut, dass wir von jenen, denen es schlechter geht, gehasst werden. Wie sehr, das wird uns seit dem 11. September 2001 immer wieder bewusstgemacht. An diesem Tag gingen nicht nur Wolkenkratzer zu Bruch, sondern auch Weltbilder. Mancher zu Wohlstand gekommene Altaktivist musste lernen, dass Solarzellen auf dem Dach, Rußfilter im SUV und Shopping beim Öko-Edelitaliener zwar das eigene Gewissen beruhigen, nicht aber todesbereite Fundamentalisten, denen die ganze Erste Welt (also wir) ein Dorn im Auge ist.
Lauter schlechte Nachrichten also? Keineswegs. Die nahenden Lawinen - Bankrott von Städten und Staaten, soziale Unruhen Marke London/Athen, Häufung von Hurrikans und anderen Klimakapriolen - verlangen Rettungskräfte, die unerschrocken agieren. Klare Köpfe, die ihre Illusionen hinter sich gelassen haben und zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden wissen. Kurz: Menschen, die in den 00er Jahren erwachsen wurden. Bereit für die Zukunft?

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