Unser aller Zeitgenosse

London · Er hat sie alle in den Schatten geschrieben. Und kaum etwas davon hat seine Gültigkeit verloren. Alle kennen William Shakespeare, der am 23. April vor 450 Jahren in Stratford-upon-Avon geboren wurde. Dennoch bleiben Fragen.

London. Den Engländern wird er nicht gefallen, der besitzergreifende Titel: "Unser Shakespeare" nennt Frank Günther sein Buch über das alle Jahrhunderte überstrahlende Genie von der Insel. Dabei führt er nur fort, womit die Dichter des Sturm und Drang begonnen haben: sich den Inselbarden einzuverleiben. Sie sahen in ihm einen Mitstreiter im Geiste, weil er, was sie im Alltag gern gehabt hätten, auf der Bühne zeigte: gekrönte Häupter und niederes Volk nicht nur in einem Theaterstück nebeneinander, sondern sogar miteinander redend! Premiere mit "Der Sturm"

Christoph Martin Wieland war der erste Shakespeare-Übersetzer ("Welcher Schriftsteller hat jemals so tief in die menschliche Natur gesehen?", schwärmte der Kanzleiverwalter aus Biberach); "Der Sturm" das erste Stück, das er mit seiner Laienspielschar aufführte.Für einen weiteren Shakespeare-Rave sorgten dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Versübersetzungen von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck ("Ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert", jubelte Goethe nach der Lektüre, ohne eine Tüte geraucht zu haben). Und Novalis ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: "Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist." Deutschland, kein Zweifel, war ganz besoffen von Shakespeare.Die Wissenschaft ist es heute noch. Jeden (!) Tag, rechnet Frank Günther zusammen, werden 15 wissenschaftliche Studien sowie ein Buch über Shakespeare veröffentlicht, macht im Jahr 6000 Publikationen, in zehn Jahren 60 000, in 30 Jahren bereits 180 000 … Rund um den Geburtstag des Barden dürfte diese Zahl sogar noch anschwellen. Die Literatur über Shakespeare: Ein stetig anschwellender Tsunami, bestehend aus Millionen von wissenschaftlichen Artikeln, verteilt über Fachzeitschriften in aller Welt und allen Sprachen.Wer soll das alles lesen? Nicht einmal die ehrlichsten Doktoranden können mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ihre These, ihr Gedanke nicht schon irgendwo (besser) formuliert, gedruckt und veröffentlicht wurde. (Heißer Tipp für Plagiatsjäger: bei Doktorarbeiten über Shakespeare wird man früher oder später fündig.)Aber das Allroundtalent - er war ja nicht nur Stückeschreiber, sondern auch Schaupieler und Theaterleiter - gehört schließlich auf die Bühne und nicht in die Bücherregale. Seine Stücke sind immer noch die größte, spannendste und beliebteste Spielwiese für deutsche Regisseure. Ihr Vorteil: Sie können sich ihren Shakespeare je nach Bedarf eindeutschen und zurechtbiegen und ihrem Publikum eine verständliche Version bieten. Ein Mann für alle Jahreszeiten

Ein unschätzbarer Vorteil gegenüber den Engländern, die bei den Texten ihres Nationaldichters oft nur noch Bahnhof verstehen. Mit boshafter Ironie zitiert Günther die Reaktion eines "native speaker", der die Verse deuten soll: "Schweißtropfen treten ihm auf die Stirn. Er zeigt hektische Schnappatmung. Er liest. Er liest noch mal" … und heraus kommt interpretatorisches Gestammel.Ist natürlich ein bisschen fies: Welcher Deutsche kann heute noch die Schwänke von Hans Sachs (1494 - 1576) stolperfrei lesen und verstehen (Beispiel: "Ich bin ein Jahr zu früh geborn,/Dieweil mir schon vorm Jahr beschieden,/ Was ich soll heuer haben hinieden./So gewinn ich jedesmal ein Jahr...")? Zweifelsfrei deutsch, aber … Na gut, Hans Sachs wird heute eher selten gespielt. Mit seinen Schwänken kriegt man kein Theater mehr gefüllt. Shakespeare dagegen ist nach wie vor ein Mann für alle Jahreszeiten, seine Worte sind Vademecum durch die Dekaden.Der polnische Regisseur Jan Kott prägte den Begriff vom "Zeitgenossen Shakespeare" und schipperte dabei doch nur im Kielwasser des Schweizer Volksdichters Ulrich Bräker, der schon 1780 Lust verspürte, über Shakespeares Werke "mit diesem lieben mann [zu] reden als wenn er bei mir am tisch säße".Und jetzt sitzt er, zumindest bildlich gesprochen, 450 Jahre nach seinem Geburtstag und 398 Jahre nach seinem Tod bei uns tatsächlich immer noch am Tisch und serviert die köstlichsten Komödien, die süßesten Liebesgeschichten und die bittersten Tragödien. Zugegeben: Manches ist inzwischen ein bisschen fad und konstruiert wie die frühen Lustspiele ("Zwei Herren aus Verona", denen es gelingt, per Schiff (!) von Mailand nach Verona zu reisen); anderes liegt schwer im Magen, "Titus Andronicus" etwa mit abgehackten Körperteilen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und als Höhepunkt die Söhne des Feldherren Titus als Pastete auf seinem Teller. Übrigens: Die Elisabethaner liebten das Splatterdrama. Shakespeare und seine Schauspieltruppe "The King\'s Men" hatten es ein Vierteljahrhundert im Repertoire. Ein Langlaufrekord, der erst von Agatha Christies "Mausefalle" gebrochen werden sollte (steht seit 62 Jahren in London auf dem Spielplan!)All das und noch viel mehr erfährt man aus Günthers Buch. Zum Beispiel: Hat der Dichter wirklich so viel gewusst, um all das schreiben zu können? Bestimmt - denn nach dem Pensum, das ihm auf der Grammar School eingebläut wurde, eine Art Gymnasium, das sich vor allem um die Pflege der klassischen Studien (Latein und Altgriechisch) kümmerte, wusste er mehr, als man heute im ganzen Studium lernt. War er schwul? Seine Sonette an einen geliebten jungen Mann könnten darauf schließen lassen. Doch vielleicht waren es auch nur frivole Gedankenspiele oder literarische Konventionen - schöne Menschen, egal ob Mann oder Frau, waren einfach ein Gedicht (wert). Grundsätzlich war Homosexualität kein Makel, vor allem in den besseren Kreisen, wo selbst König Jakob I. gern und ganz ungeniert Knaben zu sich nahm und seine Frau Anna lediglich zur Produktion von Nachwuchs nutzte. Der Dichter und die Königin

Hatte Shakespeare was mit Elisabeth I.? Hm, schwer zu sagen. Immerhin war die Frau 31 Jahre älter. Aber auch seine Gönnerin in gefährlichen Zeiten (Stichwort Puritaner: verteufel[te]n alles, was Spaß machte - natürlich auch das Theater). Ein bisschen Dankbarkeit konnte also nichts schaden.Günthers Abhandlung ist wissenschaftlich fundiert, ohne akademisch dröge zu sein; es blitzt Humor und augenzwinkernde Ironie zwischen den Zeilen hindurch, und er verblüfft mit einigen Erkenntnissen, die einmal mehr untermauern: So schnell wird "Unser Shakespeare" nicht aus der Mode kommen. Jedenfalls nicht in den nächsten 450 Jahren. Frank Günther, "Unser Shakespeare", Deutscher Taschenbuch Verlag, 335 Seiten, 14,90 Euro.Extra

William Shakespeare ist der größte Dichter der Welt und aller Zeiten! Glaubt ihr nicht? Ist aber so. Es gibt kein Land auf der Erde, in dem seine Stücke nicht gespielt werden. Der Mann hat über alles geschrieben: Über Liebe und Liebeskummer, über Treue und Untreue, über Schurken und Könige. Jeder kennt die herzzerreißende Geschichte des berühmtesten Liebespaars aus dem Theater, "Romeo und Julia", oder den "Sommernachtstraum", wo Menschen zu Tieren und Tiere zu Menschen werden und alle am Ende fast ganz gaga sind. In seinen 38 Stücken hat er mindestens drei Mal so viele Menschen erstechen, erwürgen, vergiften und köpfen lassen. Das Blut floss in Strömen (zu Zeiten Shakespeares gab es noch kein künstliches "Theaterblut", es wurde Tierblut vergossen, so dass es am Ende auf der Bühne ganz schön gestunken hat). So viel ist schon mal klar: Langweilig wird es bei Shakespeare nie. Am 23. April 1564, vor 450 Jahren also, ist er in der englischen Stadt Stratford-upon-Avon zur Welt gekommen (im selben Jahr wurde übrigens der Bleistift erfunden). Wer mehr über ihn erfahren möchte (über Shakespeare, nicht den Bleistift), der kann das in einem kleinen Buch nachlesen, in dem sämtliche Stücke ganz kurz erzählt werden. Außerdem lernt man einiges über die Zeit, in der er lebte, nämlich von 1564 bis 1616. no Katharina Mahrenholtz und Dawn Parisi: "Shakespeare! Seine Werke, seine Welt", Hoffmann und Campe, 77 Seiten,14,99 Euro.

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