Unterm Strich - Die Kulturwoche

In der Schule war’s ja noch einfach. Da konnte man sich von den neugierigen Blicken des Banknachbarn mit einem Mäppchen zwischen den Arbeitsblättern schützen.

Einmal raus aus dem Schulsystem wird's schon schwieriger. So sieht es auch Kunstkritiker Walter Vitt, der langjährige Verbandsvorsitzende des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA monierte unlängst, dass unter den Kunstkritikern viel zu oft voneinander abgeschrieben werde. Und noch schlimmer, so schlichen sich viele Fehler in Artikeln ein. Da schreibt also ein Kritiker vom anderen ab und übernimmt praktischerweise direkt die Fehler des Ersten mit. Abschreiben ist die eine Sache. Sich bei anderen orientieren, Inspirationen holen oder sogar Ideen aufgreifen und weiterentwickeln scheint aber okay, und in letzter Zeit wieder groß in Mode in allen Bereichen der Kunst zu sein: Der Glöckner von Notre Dame wird demnächst vom Buch über den Film über den Zeichentrickfilm zum Musical (ab April 2017 im Theater des Westens in Berlin). Das Ohnsorg-Theater ließ sich von Til Schweiger inspirieren, sein Erfolgsfilm "Honig im Kopf" wurde zum Plattdeutsch-Theaterstück "Honnig in'n Kopp". Als sozusagen künstlerisches Gegenstück wurde das Hamburger Theaterfestival mit einer Filmversion von Schillers Klassiker "Die Räuber" eröffnet. Frei nach dem Motto "Wenn der Film nicht zum Theater kommt, muss das Theater eben zum Film gehen"… oder andersherum. Tim Burton perfektioniert diese Disziplin schon seit einigen Jahren. Er macht Filme aus allem, was nicht bei drei auf dem Baum ist: Musicals ("Sweeney Todd"), Fernsehserien ("Dark Shadows"), Comics ("Batman"), Kinderbüchern ("Alice im Wunderland") und sogar anderen Filmen ("Planet der Affen"). Seine Verfilmung des Bestsellers "Die Insel der besonderen Kinder" startet nun unter dem englischen Titel "Miss Peregrine's home for peculiar children" durch direkt an die Spitzen der Kinocharts. Auf bekannte Stoffe zurückgreifen ist ja auch nicht direkt abschreiben: Der Agatha-Christie-Klassiker "Mord im Orientexpress" soll mit Hollywood-Stars wie Michelle Pfeiffer, Judi Dench und Daisy Ridley neu verfilmt werden. Johnny Depp spielt auch mit, allerdings nur kurz, er ist die Leiche. Und sich an Fortsetzungen bekannter Stoffe probieren, kann auch nicht verkehrt sein: Unter dem Titel "Blair Witch" folgt Teil drei des verwackelten Handkamera-Hexenhorrors, doch was damals neu und ungewöhnlich war, ist in Zeiten von Youtube-Vlogs (Video-Blogs, also Blogeinträgen, die man nicht schreibt, sondern in die Kamera redet) und Smartphones mit integrierter Kamera und Aufnahmefunktion eben kein Hexenwerk mehr. Was bleibt ist die Erinnerung an den gepflegten Grusel aus dem Jahr 1999 und die Erwartung und vielleicht Hoffung, dass es mit Teil drei nochmal so werden könnte. Sich an Ideen anderer oder Konzepte dranzuhängen, die bereits einmal gut funktioniert haben, ist oft gut und sogar ratsam. Wär ja auch schön blöd, wenn jeder täglich versuchen würde das Rad sprichwörtlich neu zu erfinden, nur um nicht als Nachahmer verschrien zu sein. Einen guten Stoff nochmal aufzuwärmen ist billig und recht. Jahrhundertwerke wie "Der Glöckner von Notre Dame" funktionieren als Buch, als Film, als Musical, als Anime, als Kasperletheater und vielleicht sogar als Daumenkino. Die Verfilmung des Romans "Dr. Schiwago" löste einen Boom für Schnurrbärte und den Namen Lara aus und machte den Stoff schier unsterblich. Omar Shariff war bis zu seinem Lebensende nur Dr. Schiwago, am Mittwoch feierte der Film seinen 50. Geburtstag. Aber manch einem Stoff tut allzu viel Aufwärmen nicht gut, siehe "Blair Witch". Man hofft jedesmal, dass es so intensiv schmeckt wie beim ersten Kochen, muss aber immer mehr nachsalzen und -würzen, um überhaupt einen Geschmack dranzubekommen. sbra/dpa

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