Unterm Strich - Die Kulturwoche

Während sinnfreie Umfragen unter den großen deutschen Städten die Kulturhauptstadt küren (siehe Seite 25), werden abseits der Metropolen Kulturlandschaften plattgemacht. In Sachsen-Anhalt hat das Landeskabinett die Theaterförderung diese Woche von 36 auf 30 Millionen zurückgefahren - mit der Folge, dass angesehene Häuser wie Dessau und Halle massenhaft Personal entlassen und teilweise Sparten schließen müssen.

Hintergrund: die gesetzlich vorgeschriebene Schuldenbremse. Andere Länder werden folgen. Gut, dass Kulturschaffende angesichts solcher Bedrohungen noch einen Blick für jene haben, die noch viel dringender Hilfe brauchen. Schriftsteller, Theatermacher, Schauspieler haben gestern in einem offenen Brief zu einem anderen Umgang mit Flüchtlingen aufgefordert. Es gebe eine "skandalöse Abwesenheit einer deutschen Einwanderungspolitik", kritisieren unter anderem Intendant Claus Peymann, Autor René Pollesch, Choreographin Sasha Waltz sowie die Schauspieler Kurt Krömer und Lars Eidinger. Die Verpflichtung, verfolgten Menschen Schutz zu gewähren, müsse wieder "uneingeschränkt gelten". Was immer man hierzulande kritisiert: Solche Aufrufe können öffentlich diskutiert werden, und wer sie unterstützt, braucht nicht mit Pressionen zu rechnen. Eine Selbstverständlichkeit? Nicht in Zeiten wie diesen. Freiheit von Kunst und Meinung, geschätzte Damen und Herren Putin-Versteher, sind in manchen Ländern offenkundig Auslaufmodelle. In Moskau und Nowosibirsk haben gewaltbereite russisch-orthodoxe Christen am Wochenende Konzerte des US-Rockstars Marylin Manson verhindert. Begründung: Der Künstler sei abartig und verderbe die russische Jugend. Apropos: Im BerlinerGropius-Bau besteht noch aufgrund einer Verlängerung bis zum 13. Juli die Chance, die Ai-Weiwei-Ausstellung zu besuchen. Innerhalb von drei Monaten haben mehr als 200 000 Besucher die Werkschau des chinesischen Künstlers besucht. Ai Weiwei selbst wird seine Ausstellung nicht besuchen können: Das chinesische Regime enthält dem Oppositionellen seit drei Jahren seinen Reisepass vor. Putin-Fan Anna Netrebko hat sich zum Glück diese Woche nicht politisch geäußert, dafür aber gesanglich einmal mehr ein Zeichen gesetzt: In München brillierte die Sopranistin als Lady Macbeth - dabei wollte Verdi für seine Oper ausdrücklich eine "hässliche Stimme", und damit kann Netrebko nun beim besten Willen nicht aufwarten. Das Publikum in der Bayerischen Staatsoper war jedenfalls völlig aus dem Häuschen und goutierte sogar die ungeliebte, weil gar nicht nette Inszenierung von Martin Kusej. Dass jemand Gesangs- und Regietalent in sich vereinigt, ist übrigens eine seltene Doppelbegabung. Darüber hinaus auch noch ein Theater erfolgreich leiten zu können, fällt schon unter Genialität. So gesehen, ist Brigitte Fassbaender eine der genialsten Künstlerinnen unserer Tage. Sie war eine der weltweit besten Mezzosopranistinnen, führte Regie in Amsterdam, Wien, Frankfurt, London und München - und war 13 Jahre erfolgreich Intendantin in Innsbruck. Gestern hat sie ihren 75. Geburtstag gefeiert. Nächstes Jahr macht sie den "Rosenkavalier" in Baden-Baden - mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern. Dieter Lintz

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