Unterm Strich - Die Kulturwoche

Meinung Wetternde Wutbürger, saure Sinfoniker, depressive Dichterinnen und ein biblischer Bluesman Mit der Ausgrabung einer arg unbekannten Barock-Oper sind die Schwetzinger Festspiele am Wochenende in ihre 59. Saison gestartet. Glucks "Telemaco" über den Sohn des Sagen-Helden Odysseus verschwand nach der Uraufführung 1765 in der Versenkung - um jetzt in einer zeitgemäßen Inszenierung von Tobias Kratzer eine glanzvolle Wiedergeburt zu feiern.

Bejubelt wurde vor allem das Bühnen-Ambiente von Rainer Sellmaier, eine Mischung aus Kolonialschlafzimmer, Flugplatzlandebahn und Dschungelcamp. Noch näher am Puls der Zeit ist das Schauspiel Stuttgart: Es brachte diese Woche ein Stück zum Thema "Stuttgart 21" heraus. In einer Collage mischt Regisseur Volker Lösch, bekennender Projektgegner, den Bahnhofs-Knatsch mit einem amerikanischen Hippie-Roman und dem Filmklassiker "Metropolis". 30 Laiendarsteller dürfen als Wutbürger-Chor rhythmisch wettern, Ex-Landesvater Mappus und Kanzlerin Merkel erscheinen als Masken. Das Premierenpublikum applaudierte kräftig - ob der Kunst oder dem Protest, war nicht auszumachen. Als Mensch und Umwelt noch im Einklang waren, brachte das niemand so schön in einen Bilderrahmen wie Caspar David Friedrich. Deutschlands Lieblings-Romantiker unter den Malern hat ab heute eine öffentliche Gedenkstätte in dem Greifswalder Haus, wo er nach seiner Geburt 1774 zwanzig Jahre lebte. Eine Ausstellung zur Familiengeschichte und ein Archiv sind dort untergebracht. Weiter auf Eis liegen Greifswalder Pläne für ein zehn Millionen Euro teures Friedrich-Museum: Es fehlt, ganz unromantisch, das Geld. Letzteres lässt sich auch über das Orchester der Landesbühnen Sachsen und die Neue Elbland-Philharmonie sagen. Beide Klangkörper in Deutsch-Südost sollen aus Kostengründen fusioniert werden, wollen aber nicht. Aus Protest streiken sie nun nicht, sondern tun das Gegenteil: Sie beginnen heute einen Orchester-Marathon, der 65 Stunden nonstop Musik bringen soll. Wären die Musiker sonst mit ihren Arbeitszeiten ähnlich flexibel, böten sich vielleicht ganz neue Perspektiven für den Erhalt ihrer Orchester. Dass Kunst und Tragik schon immer nahe beieinander lagen, macht das Buch "Herzanker" deutlich, das am Dienstag im Aufbau-Verlag erschienen ist. Die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert zeichnet dort 13 Biographien von Dichterinnen aus sechs Jahrhunderten nach. Von Droste-Hülshoff bis Lasker-Schüler, von Bachmann bis Atwood: Lauter Geschichten des gesellschaftlichen Unwillens, der Hürden und Behinderungen, oft auch der Depression und der Armut. Eine notwendige Erinnerung daran, wie eine Männergesellschaft mit Frauen in der Kunst umgesprungen ist. Auch der Blues hat manchmal Macho-Züge, aber nicht, wenn ihn ein weiser, biblisch alter Mann wie B.B. King spielt. Mit 85 hat er diese Woche seine Deutschland-Tour gestartet, frenetisch gefeiert in Wolfsburg. Die Finger sind schnell wie eh und je, der Hüftschwung klappt auch noch. Gute Voraussetzungen, wenn er am 7. Juli in die Rockhal kommt. Dieter Lintz

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