Unterm Strich - Die Kulturwoche

Man sollte sich hüten, aus der Liste der meistverkauften Bücher auf den geistigen Zustand eines Volkes zu schließen. Sonst könnte einem nämlich angst und bange werden um die Deutschen.

Drei der vier Spitzenplätze in der gerade veröffentlichten Spiegel-Jahresbestsellerliste 2012 belegen die Soft-Sadomaso-Elaborate der "Shades of Grey"-Reihe, gefolgt von einer Prise betulichen Krimis (Bannalecs "Bretonische Verhältnisse") und Allerwelts-Fantasy ("Die Herren von Winterfell") sowie der neusten Schmonzette aus der Fließband-Textfabrik von Dora Heldt für das Courths-Mahler-Publikum des 21. Jahrhunderts. Da sind die düsteren Adler-Olsen-Krimis und Jonas Jonassons pfiffiger hundertjähriger Forrest Gump aus Schweden geradezu literarische Lichtblicke. Käme aber ein kleines grünes Männlein aus dem All und studierte die Liste, kehrte es mit dem Eindruck nach Hause zurück, bei den Deutschen lauerten hinter jeder bürgerlichen Fassade die wildesten Abgründe. Wie groß wäre die Enttäuschung, wenn er darob mit seinen Mitbewohnern tatsächlich auf die Erde umsiedelte. An der Münchener Staatsoper heißt der Ausdruck erotischer Ekstase nicht "Shades of Grey", sondern Jonas Kaufmann. Zu Silvester ließ man den Tenor-Superstar als Überraschungsgast mal so eben im glitzernden Federkostüm auf einer Wolke einschweben - mitten in die "Fledermaus", wo er ein paar Verdi-Arien schmetterte. Das Publikum war restlos enthusiasmiert und ließ sich mit Luftschlangen bewerfen. Soll noch einer sagen, dem deutschen Theater gehe es schlecht. Es ginge ihm womöglich auch nicht schlechter, wenn Claus Peymann nächstes Jahr mit 76 in den wohlverdienten Ruhestand entschwände. Aber der Patriarch des Berliner Ensembles, einst Vorkämpfer der antiautoritären Bewegung gegen die alten Säcke, würde wohl gerne gebeten werden, seine Amtszeit auch über 2014 hinaus fortzusetzen. Fragt sich nur, ob jemand bittet. Vielleicht, so ließ der Veteran diese Woche die Berliner Zeitung wissen, werde er aber auch einfach in seinem Garten glücklich. So endet mancher Provokateur. Provokationen gelingen mal mehr, mal weniger. Wie soll man da den Skandal einordnen, den der italienische Objektkünstler Maurizio Cattelan auslöste, als er dieser Tage die Statue eines kniend betenden Adolf Hitlers ausgerechnet in einem Hauseingang des ehemaligen Warschauer Ghettos aufstellte? Funktioniert hat die Provokation allemal. Aber trägt das auch - angesichts eines Werkes, dem die Kritik attestierte, es hätte bestenfalls "die Ausdruckstärke eines Gartenzwergs". Letzteres würde über Anthony Hopkins wohl niemand sagen. Wer sonst hätte es schaffen können, im (vom Fernsehen leider meist verstümmelten) Abspann zum "Schweigen der Lämmer" das Publikum dazu zu bewegen, dass es ihm insgeheim die Daumen drückt beim Versuch, seine Opferliste als Mörder und Kannibale um eine weitere Person aufzustocken. Machen wir es kurz: Sir Anthony, einst als Sohn einer Bäckerfamilie in Wales geboren, ist ein Genie. Und seit Silvester 75 Jahre alt. Dieter Lintz Diese und weitere TV-Kolumnen finden Sie auch im Internet auf www.volksfreund.de/kolumne

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