Verdammnis, Schuld und Rache

Er ist mit 350 Millionen verkauften Büchern einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart, seine Fans halten ihn für den Meister des Horrors: Mit seinem aktuellen Werk "Zwischen Nacht und Dunkel" ("Full Dark, No Stars") findet der mittlerweile 63-jährige Altmeister Stephen King zur alten Stärke und Radikalität zurück.

Trier. Tabubrüche sind sehr beliebt in der Welt des Horrors in Literatur und Film. Eine logische Konsequenz, schließlich bietet das Spiel mit Angst und Grauen mehr Chancen zur Grenzüberschreitung als die meisten anderen Genres. Für einen Künstler sind diese Brüche Aufmerksamkeitserreger, aber auch Risiken. Treibt er es zu weit, wendet sich das Publikum mit Grausen ab.

Familienvater wird zum Axtmörder



In den vergangenen 36 Jahren haben manche genau so auf einen der mittlerweile 49 Romane des Amerikaners Stephen King reagiert. Kein Wunder, denn der Mann kennt keine Gnade. Er machte einen Familienvater zum wahnsinnigen Axtmörder ("Shining"), hetzte Jahrzehnte vor dem aktuellen Hype um die Teenie-Romantik in den Twilight-Filmen Vampire auf eine amerikanische Kleinstadt ("Brennen muss Salem"), ließ einen tollwütigen Bernhardiner auf eine Mutter und ihr kleines Kind los ("Cujo") und löschte den Großteil der Menschheit durch eine Supergrippe aus, um die Überlebenden das große Finale der Guten gegen die Bösen auskämpfen zu lassen ("Das letzte Gefecht").

Zu extrem, zu schlimm, zu brutal, sagen Kritiker und schieben noch sprachliche und stilistische Schwächen hinterher. Dennoch kaufen und lesen Millionen seit Jahrzehnten seine Bücher. Kings enormer weltweiter Erfolg, der in den 80ern voll ins Rollen kam, trug maßgeblich mit dazu bei, den Horror in Buch und Film zum weltweit relevanten Marktsegment zu machen. Ein Zug, auf den viele dankbar aufsprangen.

Das Markenzeichen des in Armut aufgewachsenen gelernten Lehrers - völlig normale konservative Mittelständler finden sich plötzlich isoliert und vom Grauen umzingelt in einem Alptraum wieder - gehört heute zu den Standards im Horror, war vor King aber unerhört. Der klassische Hollywood-Horror ließ zwischen 1930 und 1970 zwar auch um des Effekts willen ein paar unschuldige Opfer zu, bemühte sich aber meistens um politische Korrektheit und reservierte das schlimmste Schicksal für die wirklich Bösen.

Stephen Kings Durchbruch als Autor mit seinem Roman "Carrie" liegt 36 Jahre zurück. Die Frage, wie lange er noch schreibt, beschäftigt die Fans rund um den Globus ständig. Der 63 Jahre alte Autor hat eine Alkohol- und Kokainsucht überwunden und wurde 1999 von einem unaufmerksamen Fahrer beim Spazierengehen lebensgefährlich verletzt. Die Frage, ob er noch die Kraft und Konsequenz besitzt, die in den 80ern Meilensteine wie "Sie" und "Es" erschufen, beantwortet er nachdrücklich in seinem aktuellen Werk "Zwischen Nacht und Dunkel". Was dieser seltsame Titel bedeuten soll, weiß wohl nur der deutsche Verleger Heyne. Im englischen Original heißt das Buch "Full Dark, No Stars" - eine rabenschwarze Dunkelheit ohne Sternenlicht.

Der Titel passt zum Inhalt. Die vier Novellen dieses Buches drehen sich um den einzig realen Horror: das Grauen, das Menschen anderen Menschen antun. "Zwischen Nacht und Dunkel" thematisiert das Böse im Menschen, Verdammnis, Rache. Ein selbstherrlicher Patriarch tötet seine Frau, geht an der Schuld geistig zugrunde und reißt seinen 14-jährigen Sohn mit. Eine Autorin wird von einem Psychopathen überfallen, vergewaltigt und für tot zurückgelassen. Doch sie überlebt, nimmt Rache und wird selbst zur Mörderin. Ein Todkranker geht einen Pakt mit dem Teufel ein und lädt sein Leid auf seinen besten Freund ab, dessen Leben daraufhin zur Serie von Schicksalsschlägen wird - was den durch den Pakt mit dem Bösen wieder Genesenen nicht belastet, sondern freut.

Der vertraute und liebevolle Killer



Der Höhepunkt des Buches: Eine Frau entdeckt durch Zufall, dass der Mann, mit dem sie seit 25 Jahren verheiratet ist, schon seit vielen Jahren immer wieder auf bestialische Weise Frauen tötet. Hier schafft es King meisterhaft, den inneren Kampf der Frau zu schildern, die ihre Familie und ihren Mann - so wie sie ihn kennt, langsam und vorhersehbar, aber auch zuverlässig und liebevoll - nicht verlieren will, aber die Last fühlt, weitere Morde zu verhindern.

"Zwischen Nacht und Dunkel" ist ein konsequenter und hervorragend erzählter Tabubruch im Stil der 80er, der Stephen Kings Ausnahmestellung unter den Romanautoren der vergangenen vier Jahrzehnte bestätigt.

Stephen King: Zwischen Nacht und Dunkel: Novellen, Heyne Verlag, 528 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-4532-66995

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