Vinyl der Woche Sticky Fingers – The Rolling Stones Die Geburt der roten Zunge

Serie · Joe Dallesandro blickt heute auf eine nicht unerfolgreiche Schauspielkarriere zurück. Zumindest auf eine, die erfolgreicher verlaufen ist, als es seine beschränkten darstellerischen Fähigkeiten erlaubt hätten.

 Sticky Fingers von The Rolling Stones

Sticky Fingers von The Rolling Stones

Foto: Band

Dallesandros Vorteil ist, dass er keine Scheu besitzt, sich nackig zu machen und auch „unbequeme“ Rollen zu spielen. So wird er 1968 mit der Hauptrolle in Flesh (die Geschichte eines jungen Strichers) durch seine avantgardistische Art zum Superstar der Underground-Filme. Trotz dieses großen Erfolges erscheint erst drei Jahre später das Dallesandro-Foto, das mit großer Sicherheit die meisten Menschen weltweit gesehen haben: Das Cover von Sticky Fingers der Rolling Stones. Das Album, das am Donnerstag vor 50 Jahren Platz eins der deutschen Charts erreichte.

Viel Arbeit dürfte Dallesandro mit diesem Foto nicht gehabt haben. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: Sich in die knallenge Röhrenjeans hineinzuquetschen muss der größte Aufwand gewesen sein. Eine Hose, so eng, dass sich das Gemächt des Models deutlich abzeichnet. Gekonnt in Szene gesetzt an der Stelle, an der der Albumtitel geschrieben steht. Man muss also draufschauen. Auf der Platte garniert mit einem echten Reißverschluss, der zum Zupacken einlädt. Eines der prägendsten Albumcover der Musikgeschichte (entworfen von niemand Geringerem als dem Künstler Andy Warhol, Kostenpunkt: 15 000 Pfund). Das jedoch von einem kleinen Detail auf der Rückseite der Platte in den Schatten gestellt wird.

Denn dort, klein rechts unten, erscheint erstmals ein Symbol, das bis heute wie fast kein zweites T-Shirts, Auto-Aufkleber ... ja, bei richtig hartgesottenen Fans sogar Tattoos ziert: die rote Zunge (die einen außerdem anspringt, wenn man das Vinyl aus dem Cover herausnimmt, weil sie dort groß prangt).

Die Zunge wird für die Stones zum Markenzeichen, für den Designer zum Glücksgriff: John Pasche ist damals Mitte 20, studiert am Royal College of Art in London. Als das Büro der Stones die Uni kontaktiert, weil sie einen Studenten suchen, der ein Tour-Logo entwirft, ist Pasche der Auserwählte. Er wird in Mick Jaggers Haus eingeladen. Dort sieht er eine Abbildung der indischen Göttin Kali, die die Zunge rausstreckt. Für eines der bekanntesten Bandlogos aller Zeiten erhält Pasche damals 50, später nochmal 200 Pfund. 1984 kaufen die Stones ihm das Copyright ab, Pasche erhält 26 000 Pfund. Kein guter Deal, blickt man auf die Millionenumsätze, die heute mit der Zunge gemacht werden.

Kommen wir noch kurz zur Musik: Ich geb’s zu, ich bin kein großer Stones-Fan. Mir fehlt da irgendwie der Bezug, vielleicht bin ich zu jung. Aber: Sticky Fingers ist rein objektiv betrachtet ein Meisterwerk. Das erste Album bei ihrem eigenen Label hat einen großen Vorteil: Es kommt ohne Lückenfüller aus. Alle Titel sind mindestens gut, manche herausragend. Ein Album, das dafür gedacht ist, es an einem Stück zu hören – und diesen Anspruch zweifelsfrei erfüllt.
Christian Thome

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