Vinyl der Woche: Bruttosozialprodukt – Geier Sturzflug Nie klang Beamtendeutsch schöner

Serie · Manche Begriffe sind derart sperrig, dass man sich keineswegs vorstellen kann, sie zu singen. Eine Herausforderung, die Geier Sturzflug vor 40 Jahren dennoch meisterten.

 Bruttosozialprodukt - Geier Sturzflug

Bruttosozialprodukt - Geier Sturzflug

Foto: ariola

Es gab eine Zeit, in der wir alle kaum wussten, was das Bruttosozialprodukt ist. Die Zeit vor dem – sagen wir – neunten Geburtstag. Ein Lügner, wer behauptet, dass er diesen sperrigen volkswirtschaftlichen Begriff damals schon hätte definieren können. Was viele jedoch nicht davon abhielt, ihn bereits zig-mal gesungen zu haben.

40 Jahre ist es her, dass Geier Sturzflug mit Bruttosozialprodukt an der Spitze der deutschen Singlecharts standen. Ein einmaliger Song, denn nie ließ sich ein derart sperriges Wort schöner singen. Bruttosoziaaaaalprodukt – Sie wissen, wovon ich spreche. Versuchen Sie das mal mit anderen Begriffen. Flächennutzuuuuuuungsplan – nö. Rechtsverooooordnung – unschön. Überhaaaaangmandat – es wird nicht besser. Verantwortlich für das Erkennen des Wortpotenzials ist der Sänger von Geier Sturzflug.

1977 reiste Friedel Geratsch gemeinsam mit seinem Kollegen Reinhard Baierle als Straßenmusiker-Duo Dicke Lippe durch die Nation. Sie schrieben den Song damals unter dem Titel Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, änderten ihn vor Veröffentlichung auf ihrem Album Jagdfieber zu Brutto-Sozial-Produkt. Dass diese Version heute kaum bekannt ist, liegt nicht zuletzt an der geringen Auflage von 1000 Exemplaren. 1982 machte er es besser und packte den Stil der Neuen Deutschen Welle auf den Song, der nur wenig später von der französischen Band Nanard als produit national brut (ja, auf Französisch klingt alles besser...) gecovert wurde.

Bruttosozialprodukt passte gut zur damaligen politischen Wende hin zur schwarz-gelben Bundesregierung. Das resultierte darin, dass der Song während des Wahlkampfes kaum im Radio gespielt wurde, da man ihm nachsagte, er würde Stimmung machen. Erst einen Tag nach der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler traten Geier Sturzflug erstmals im Fernsehen auf. Doch auch da gab es Hürden: Hitparade-Meister Dieter Thomas Heck weigerte sich, das Lied anzusagen. Friedel Garatsch und Co. hatten ihre ganze eigene Art, zu kontern. Statt der Originalzeile: „…und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt den ganzen Plunder…“ sangen sie in der Sendung: „…und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt sich einen runter…“. Die Band schaffte es dennoch auf die Spitzenposition der Sendung.

Was Geier Sturzflug – wie die meisten NDW-Bands – nicht schafften: dauerhaft erfolgreich sein. Gut, kurz nach Bruttosozialprodukt erschienen mit Pure Lust am Leben, Besuchen Sie Europa und Einsamkeit weitere erfolgreiche Titel. Dann war jedoch Schluss, die Band trennte sich 1986. Irgendwann kamen sie wieder zurück – aber Sie wissen ja, wie das ist: Aufgewärmt schmeckt nur halb so gut.

Der größte und – wenn Sie mich fragen (tun Sie, denn das hier ist ja meine Kolumne...) – beste Song von Geier Sturzflug bleibt jedoch Bruttosozialprodukt. Man muss dafür auch nicht wissen, was das Wort überhaupt bedeutet.

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