Vinyl der Woche: The Times They Are A-Changin' – Bob Dylan Der perfekte Protestsong
Serie · Bob Dylan hat viele Protestsongs geschrieben. Vor 60 Jahren fand sein bester seinen Ursprung – mit dem Tod einer schwarzen Bardame.
Was macht einen starken Protestsong aus? Nun, ich bin wirklich kein Experte, habe noch nie ein Lied geschrieben. Aber ich denke: Schafft man es, eine wahre Geschichte auf ein aktuelles, gesellschaftliches Thema zu beziehen und aufzugreifen, dann ist man schon sehr weit. Bob Dylan ist das besonders häufig gelungen. Aber nie besser als in „The Lonesome Death of Hattie Carroll“. Einem Song, der vor 60 Jahren mit einem schrecklichen Verbrechen seinen Anfang nahm.
Es ist der 9. Februar 1963. Der Ort: das Emerson Hotel in Baltimore, Maryland. Die 51-jährige Bardame Hattie Carroll arbeitet hart. Gegen 1.30 Uhr betritt William Devereux „Billy“ Zantzinger die Bar. Zantzinger, gerade Anfang 20, ist ein reicher Mann mit eigener Tabakfarm. Also „eigen“ in dem Sinne, dass sie seiner Familie gehört. Hattie Carroll ist schwarz, hat laut Washington Post neun Kinder, hält sich mit dem Job an der Bar über Wasser.
Zantzinger ist bereits betrunken, als er die Bar betritt. Mit einem weißen Spielzeugstock schlägt er fast jeden, der in seine Nähe kommt. Als er einen Drink bestellt, bedient Hattie gerade einen anderen Kunden. Zantzinger beleidigt sie, Hattie sagt: „Ich beeile mich, so schnell ich kann.“
Dann rastet Zantzinger aus: „So etwas muss ich mir von einem Schwarzen (Anm. d. Red, hier fiel eigentlich ein unschöneres Wort) nicht gefallen lassen.“
Er schlägt so hart mit dem Stock auf Hattie ein, dass sie zu Boden geht und später im Krankenhaus stirbt. Zantzinger wird festgenommen, ein Haftbefehl wegen Mordes ausgestellt. Für den Reichen kein großes Problem, er kommt auf Kaution frei.
Noch besser für ihn: Die Anklage wird heruntergestuft. Zunächst auf Totschlag, dann auf Körperverletzung. Hattie Carroll habe verhärtete Arterien, ein vergrößertes Herz und hohen Blutdruck gehabt, sagen die Richter. Sie sei vermutlich an einer Hirnblutung gestorben, die durch den Stress von Zantzingers verbalen und körperlichen Beschimpfungen, aber nicht durch den Angriff mit dem Stock verursacht worden sei.
Zantzinger wird zu sechs Monaten Haft verurteilt, die er nicht im Staatsgefängnis, sondern in der vergleichsweise sicheren Umgebung des Washingtoner Bezirksgefängnisses absitzt.
Bob Dylan nutzt die Tat, um mit seinem Song auf die Bevorteilung reicher, weißer Männer in solchen Fällen aufmerksam zu machen. Der Titel erscheint nur wenige Monate nach der Verurteilung Zantzingers auf dem Album The Times They Are a-Changin’ – der Platte, die Dylans Ruf begründet als wichtigster Protestsänger der Jugendbewegung.
Und Zantzinger? Der bleibt kriminell. Viele Jahre später wird er erneut verurteilt, diesmal zu 19 Monaten, weil er unter anderem Schwarze bei Mieten abgezockt hat. Und: Der Song gefällt ihm überhaupt nicht: „Er (Dylan) ist ein nichtsnutziges Kind einer Sexarbeiterin (Anm. d. Red.: Auch hier fiel ursprünglich ein unschöneres Wort). Er ist wie der Abschaum der Erde. Ich hätte ihn verklagen und in den Knast stecken sollen“, sagt er 2001, acht Jahre vor seinem Tod.
Ein Protestsong ist auch dann gut, wenn er den, gegen den er sich richtet, trifft. Punkt Dylan.
Christian Thome