Vom gelassenen Umgang mit der Zeit

Luxemburg · Die "rainy days" sind in jedem Jahr für Entdeckungen gut. Mit dem Thema Zeit entfaltete das Luxemburger Neue-Musik-Festival an vier Tagen ein akustisches und optisches Panorama mit einem selbst für dieses Festival ungewöhnlichen Ideen-Reichtum.

Luxemburg. "We are late", sagte Irvine Arditti. Um 17.15 Uhr, bei Beginn der fünften Sitzung im fast siebenstündigen Arditti-Quartettmarathon der "rainy days" präsentierte der Primarius des nach ihm benannten Neue-Musik-Quartetts mit gehöriger Ironie zwei Nachrichten. Die gute: Brian Ferneyhoughs zweiminütiges "Adagissimo" sei das kürzeste Stück des Tages. Die (angeblich) schlechte: Morton Feldmans Streichquartett Nr. 1 dauere 25 Minuten länger als angegeben - im Programm standen noch 75 Minuten.100 Minuten leise, zarte Atonalität und dazu 100 Minuten gespannte Stille unter den 200 Besuchern im Kammermusiksaal der Luxemburger Philharmonie. Sie jedenfalls haben ernst genommen, was das Motto der "rainy days" verkündet: "take your time" - "Nimm dir Zeit". Und tatsächlich brachte das Luxemburger Neue-Musik-Festival dieses Jahr das Thema Zeit in all seinen vielfältigen Aspekten zum Klingen. Dabei ging es nicht um chronologische Abläufe, sondern um erfahrene, um gestaltete Zeit.Weiter künstlerischer Radius

Auch Feldmans Quartett reiht nicht einfach eine Klangfigur an die nächste, sondern strukturiert die Abläufe und greift die einleitenden, zart-zerbrechlichen Akkordverschiebungen wie Leitmotive immer wieder auf - glückliche Augenblicke auf einem weiten Weg. Freilich bleibt trotz des ausharrenden Publikums der Verdacht, dass gerade solche Musik die Hörer zu Zaungästen eines Dialogs zwischen Komponist und Interpreten herabstuft. Der künstlerische Radius bei den "days" indessen war so weit gesteckt wie selten. Er reichte von originellen Klang- und Videoinstallationen über teils gedankenreiche, teils provokant-verspielte Klang-Aphorismen bis hin zu Musik, die an Zeitgefühl und innere Ruhe appelliert. Zum Letzteren gehörten die Kompositionen einer achtstündigen Veranstaltungsreihe in der Abtei Neumünster, die mit der 40-stimmigen Renaissance-Motette "Spem in alium" von Thomas Tallis weit in die Vergangenheit zurückgriff und mit Zen-Liturgie verband. Von den insgesamt 14 Uraufführungen hier und in anderen Reihen hinterließen vor allem "unit4" von Festivalgründer Claude Lenners, Klaus Langs "seven views of white" und "intersped" von James Saunders einen starken Eindruck.Das Abschlusskonzert vor rund 500 Besuchern zielte auf die Versöhnung von Avantgardismus und Konzertsaalkultur. Wurde das eine von Brian Ferneyhoughs "Epicycle" repräsentiert, so stand für das andere Alban Bergs Violinkonzert mit dem ausdrucksbewussten Solisten Ernst Kovacic. Aber ob experimentell oder traditionell - das Orchestre Philharmonique konzentrierte sich unter dem detailreichen Dirigat von Emilio Pomarico ganz auf Ausdruck und Gefühl. Da war die Zeit nur noch ein Nebenthema.Extra

… Bernhard Günther, Organisator der Veranstaltungsreihe "rainy days": Herr Günther, Sie organisieren seit 2005 die "rainy days". Was waren für Sie die Höhepunkte? Günther: Das war auf jeden Fall der Arditti-Quartettmarathon. So etwas erlebt man nur ganz selten. Dann der Tag in der Abtei Neumünster, eine neue Art, Musik und Zeit zu erleben und über beides nachzudenken. Wie fiel denn der Besuch aus? Günther: Wir haben weniger Publikum als 2012, weil der Abschlusstag damals 500 Mitwirkende hatte. Das lässt sich nicht einfach wiederholen. Ich bin über den Zuspruch trotzdem erfreut. Kein einziges Konzert fand vor einem Mini-Publikum statt. Ist bei den "rainy days" mit den jährlich wechselnden Themen denn nicht auch irgendwann der Ideen-Vorrat aufgebraucht? Günther: Bei der Buntheit und der Formenvielfalt, mit denen sich das Festival jedes Jahr neu erfindet, liegen Neuerungen in der Natur der Sache. Neue Musik ist so vielfältig, dass sie sich so rasch nicht erschöpft. Dann können Sie uns vielleicht das Motto für das nächste Jahr verraten? Günther: 2014 geht es um das Thema "Licht". mö

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