Vorgelesen - Neue Hörbücher

"Du hast mir verschwiegen, dass wir von Natur aus besser sind als die Neger. (…) Dass sie nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen durften, aber nicht weiter.

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(…) Du bist ein Feigling und ein Snob und ein Tyrann, Atticus. (…) Du hast mich getäuscht. (…) Ich verachte dich und alles, wofür du stehst." Diese Worte tun weh. Sie tun Scout weh, die sie spricht. Sie tun ihrem Vater Atticus Finch weh, dem sie gelten, wobei er sich nichts anmerken lässt. Sie tun dem Leser weh, der die Helden aus Harper Lees Bestseller "Wer die Nachtigall stört" von 1960 und der Verfilmung von 1962 lieben gelernt hat. "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist die Fortführung der Erzählung über Scout, Atticus und die Geschichte der amerikanischen Südstaaten. 20 Jahre sind vergangen, seitdem das Mädchen Jean Louise alias Scout - nicht ladylike in Latzhosen - im Gerichtssaal von Maycomb, Alabama, auf der Empore bei den Farbigen saß und verfolgte, wie ihr Vater den schwarzen, zu Unrecht der Vergewaltigung angeklagten Tom Robinson verteidigt: Vor dem Gericht seien alle Menschen gleich, beschwört Atticus die Geschworenen. 20 Jahre später, Mitte der 1950er, sagt derselbe Mann zu seiner Tochter, die aus New York zu Besuch ist: "Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen, Kirchen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt? (…) Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?" Wie konnte aus dem Verfechter des Gleichheitssatzes ein Befürworter der Rassentrennung werden, wenn auch nicht einer der radikalsten, der Ku-Klux-Clan-Sorte? Den "Wächter" schrieb die heute 89-jährige Lee vor der "Nachtigall". Ihre Agenten wollten ihn damals nicht veröffentlichen wegen des Gegenwartsbezugs: 1957, im Jahr der Manuskriptabgabe, beschäftigte sich der Kongress mit dem Civil Rights Act, der es den Schwarzen ermöglichen sollte, ihr Wahlrecht auch wirklich auszuüben. So schrieb Lee die Vorgeschichte, die Heldenvariante. War also der Held Atticus nur ein Zugeständnis an den Markt, an Leser, die der Komplexität der Charaktere aus dem "Wächter", ihrer Spiegelbild-Funktion, nicht gewachsen gewesen wären - oder zumindest nicht ausreichend viele, um das Buch in den Beststeller-Rang zu heben? Scout konfrontiert ihren Vater mit Fragen, die auch den Leser umtreiben, sie gibt Kontra, sie kämpft. Bis sie - ja, was? Aufgibt? Verzeiht? Einsieht? Das Ende ist ebenso verwirrend und diskussionswürdig wie der "neue" Atticus. Nina Hoss, die den Roman gelesen hat, ist die perfekte Sprecherin, sie vermittelt jede Gefühlsregung der impulsiven Scout, ihren Eigensinn, ihre Wut, ihre Trauer. Hoss' Lesung vertieft die emotionale Ebene, verstärkt den Unwillen angesichts dieser Desillusionierung. Nach der Diskussion mit ihrem Vater sagt Scouts Onkel zu ihr: "Es ist immer leicht, zurückzuschauen und zu sehen, was wir waren. (...) Es ist schwer zu sehen, was wir sind." Ein bitterer Trost. Ariane Arndt-Jakobs Harper Lee: "Gehe hin, stelle einen Wächter"; ungekürzte Lesung von Nina Hoss; 1 MP3-CD, 450 Minuten, der Hörverlag; 19,99 Euro.

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