Warnung vor der Unmenschlichkeit

George Orwells Science Fiction "1984" kam vor genau 60 Jahren in den Buchhandel. Im Juni 1949 erschien der Roman des britischen Schriftstellers, der mit bürgerlichem Namen Eric Arthur Blair hieß. Manche seiner Visionen sind von der Gegenwart überholt, aber seine Kern-Aussage bleibt gültig.

 „1984“ gibt es auch als Theaterstück. Lorin Maazel führte es 2005 in London auf. Bariton Simon Keenlyside spielt den „Gedankenverbrecher“ Winston auf der Folterbank. Foto: dpa

„1984“ gibt es auch als Theaterstück. Lorin Maazel führte es 2005 in London auf. Bariton Simon Keenlyside spielt den „Gedankenverbrecher“ Winston auf der Folterbank. Foto: dpa

Trier. Ein Gefangener liegt gefesselt in einem Verhörzimmer. An seinen Körper sind Elektroden angeschlossen, um ihn mit Stromstößen zu foltern. Sein Peiniger hält ihm vier Finger vor die Augen und fragt, wie viele Finger er sehe, woraufhin er antwortet: "Vier". Daraufhin erhält er einen kräftigen Stromstoß, so dass er vor Schmerz aufschreit.

Wie viele Finger sind an der Hand?



Wenn die Partei aber behauptet, es seien fünf Finger zu sehen, wie viele Finger es dann wohl wären, will sein Peiniger wissen. "Vier" antwortet der Mann erneut, worauf er einen so starken Stromstoß erhält, dass er vor Schmerz sein Bewusstsein verliert. Natürlich will die Partei die in ihren Augen korrekte Antwort hören: "Fünf". Irgendwann ist der Gefolterte dann auch soweit, dass er nicht nur "fünf" zur Antwort gibt, sondern das auch aus tiefstem Herzen glaubt.

Diese Szene, die George Orwell in seinem Roman "1984" schildert, ist wohl die Schlüsselszene seines Werks. In dem Zukunftsroman, der im Juni 1949 in die Buchhandlungen kam, beschreibt er einen totalitären Staat ohne Menschlichkeit. Sein düsterer Zukunftsentwurf kommt nicht von ungefähr, die Erfahrung des zweiten Weltkriegs mit seinen Schrecken steckte den Menschen noch in den Knochen.

In "1984" wird der fiktive Staat Ozeanien wird von einer Partei beherrscht, deren Vorsitzender sich "Big Brother" (Großer Bruder) nennt. Jeder Bürger wird überwacht, denn in allen Wohnungen sind sogenannte Televisoren installiert, Fernseh-ähnliche Geräte, mit denen sie bespitzelt werden können.

Die Televisoren dienen ebenso als Empfänger und bombardieren die Bürger mit einem 24-Stunden-Propaganda-Fernsehprogramm. Konsequenterweise gibt es keinen Ausschalter an diesen Geräten.

Winston Smith wird "Gedankenverbrecher"



Die Hauptfigur Winston Smith kommt nun auf die Idee, ein Tagebuch zu schreiben und wird zum "Gedankenverbrecher".

Denn kritisches Denken sieht das System nicht vor, geschweige denn ist es erlaubt, ein Tagebuch zu führen. Smith wird erwischt und muss schmerzlich lernen, dass - auch wenn die Hand vier Finger zeigt, es fünf sind, wenn die Partei das so will.

Orwells Buch erlangte Weltruhm. Geradezu visionär beschrieb er die Möglichkeiten moderner Überwachungstechniken und stellte schonungslos dar, wie schnell es in einem Land mit der Menschenwürde vorbei sein kann, wenn nur eine Gruppe das Sagen hat.

Freilich, die technischen Visionen Orwells hat die Gegenwart schon lange überholt. In Internet-Foren präsentieren viele Nutzer - allerdings völlig freiwillig - ihre privaten Interessen, Sympathien und Abneigungen vor einem Millionen-Publikum. Der Televisor ist im öffentlichen Raum der Metropolen Großbritanniens schon lange Realität. Dort sorgen an jedem Platz, von der U-Bahn-Station bis zum Pub um die Ecke Video-Kameras für 24-Stunden-Überwachung.

Orwells Gedankenpolizei hätte heute leichtes Spiel, um Systemgegner ausfindig zu machen und sie auf die Folterbank zu schnallen. Glücklicherweise blieb der "Big Brother" bislang aus - außer als Titel einer "Containershow" im Privat-Fernsehen.

Orwells Botschaft bleibt dennoch gültig: Niemals sollte eine totalitäre Gruppe an die Macht kommen. Orwell hält dem Leser den Spiegel vor und zeigt, wie schlimm es sein könnte, wenn die Gesellschaft ihre Menschlichkeit und ihre Werte verliert. Sein Werk ist ein flammender Appell gegen menschenverachtende Systeme und Ideologien und eine Warnung vor der Unmenschlichkeit.

Extra

George Orwell wurde am 25. Juni 1903 in Motihari, Britisch-Indien als Eric Arthur Blair geboren. 1921 arbeitete er für die britische Kolonialpolizei in Burma. 1927 kehrte er nach England zurück, um Schriftsteller zu werden. Er hat jedoch nicht sofort Erfolg und muss sich als Tagelöhner durchschlagen. 1937 nimmt er am spanischen Bürgerkrieg teil. 1945 erscheint sein Buch "Farm der Tiere", aus dem der bekannte Ausdruck stammt "Alle Tiere (Menschen) sind gleich, doch einige sind gleicher", eine Abrechnung mit dem Stalinismus. 1949 erscheint dann "1984". Orwell stirbt am 21. Januar 1950.

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