Der Traum von der ewigen Jugend Der Traum von der ewigen Jugend

Warum uns das Coronavirus seelisch überfordert. Ein Essay von Frank Jöricke.

 Diese Bronzefigur reckt sich in Karlsruhe aus dem „Lammbrunnen“. Das Werk des Künstlers Karl Henning Seemann symbolisiert den Urtraum der Menschheit, einen Jungbrunnen, dessen Wasser die alte Frau beim Eintauchen wesentlich verjüngt.

Diese Bronzefigur reckt sich in Karlsruhe aus dem „Lammbrunnen“. Das Werk des Künstlers Karl Henning Seemann symbolisiert den Urtraum der Menschheit, einen Jungbrunnen, dessen Wasser die alte Frau beim Eintauchen wesentlich verjüngt.

Foto: picture-alliance / dpa/Uli_Deck

Der Tod ist auch nicht mehr das, was er mal war. Früher begegnete er einem öfter. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich als Kind mit meiner Oma auf dem Friedhof zugebracht habe. Sie pflegte dort Gräber, und davon gab es viele. Denn wer in den 60er und 70er Jahren aufwuchs, erlebte den Zweiten Weltkrieg noch mit – zumindest aus zweiter Hand. Irgendwo gab es immer eine Großtante oder ältere Bekannte, die davon erzählte, „in Russland“ ihren Mann, Bruder oder Sohn verloren zu haben. Auch kam es, verglichen mit heute, häufiger vor, dass Menschen „in den besten Jahren“ an Herzinfarkt oder Krebs starben. Der Tod fand nicht nur in Tagesschau und Kino statt, sondern auch in Nachbarschaft und Freundeskreis. Er war im Alltag hörbar und sichtbar.

Zudem hatte der Sensenmann zwei stete Begleiter: Alter und Verfall. Wer sich heute Familienfotos aus den 50er und 60er Jahren anschaut, staunt, wie verbraucht die Groß- oder Urgroßeltern bereits mit Mitte 40, Anfang 50 aussahen. Der brutale Existenzkampf, schlechte Ernährung und noch schlechtere Erfahrungen – Krieg, Gefangenschaft, Hunger – hatten Spuren hinterlassen. Diese Menschen waren nicht mehr jung. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht mehr sein, weil sie in ihrer Jugend, fernab von zuhause, zu viele schlimme Dinge erlebt hatten. Deshalb stand ihnen auch nicht der Sinn nach den heute so beliebten Fernreisen und Städtetrips. Sie besuchten nicht New York oder Thailand, sondern Friedhöfe, auf denen Verwandte und Freunde begraben lagen.

Diese Welt war uns, den Nachgeborenen, fremd. Mit der Volljährigkeit wartete auf uns kein Panzer, sondern ein gebrauchter Golf. Und geliebte Menschen verloren wir nicht an Gevatter Tod, sondern an Nebenbuhler und vermeintliche Freunde. Das mochte sich anfühlen wie ein Stich ins Herz, aber anders als bei einem Schuss ins Herz lebte man weiter.

Und das mit Elan und Begeisterung. Im Januar 1989 kürte die Zeitschrift Tempo die 80er zum „Spaßjahrzehnt“. Die gingen über ins Partyjahrzehnt, die 90er. Ab und an, zum Beispiel am 11. September 2001, wurden wir daran erinnert, wie unvermittelt das Leben enden kann. Doch die Terroranschläge blieben Momentaufnahmen. Danach ging man zur Tagesordnung über, arbeitete viel, feierte viel – „work hard, party hard!“. Mit dem Nachwuchs geriet die Work-Party-Balance ins Wanken; das Leben wurde anstrengender. Nur der Tod, der spielte weiterhin keine Rolle.

Wohl auch, weil man vor lauter Arbeits- und Freizeitstress gar keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Vor allem aber, weil Alter und Tod im Leben der Junggebliebenen und Jung-bleiben-Wollenden nicht mehr vorgesehen waren. Aus Oma und Opa waren „Best Ager“ geworden, die keine Marschmusik, sondern Abba, AC/DC oder Alphaville hörten – „forever young!“

In seinem Essaybuch „Schöne junge Welt“ beschäftigte sich Claudius Seidl, Feuilletonchef der FAZ-Sonntagszeitung, bereits 2005 mit der Frage „Warum wir nicht mehr älter werden.“ Das war nicht nur sinnbildlich gemeint, sondern auch biologisch. 1968 hatte die 27-jährige Faye Dunaway die Hauptrolle im Film „The Thomas Crown Affair“ inne. Im Remake 1999 wurde ihr Part mit der 45-jährigen Rene Russo besetzt; ein Altersunterschied war nicht erkennbar. 50 war das neue 30 geworden und 70 das neue 50. Damit verschwand der Tod aus dem öffentlichen Bewusstsein. Er wurde unsichtbar, war nur noch ein Wort, ein abstrakter Begriff.

Mit Corona ist er wieder real geworden, im wörtlichen Sinn anfassbar. Das erklärt die extremen seelischen Reaktionen auf das Virus. Der Schock darüber, dass der Tod einen Handschlag entfernt sein kann, hat bei manchen Menschen komplette Verdrängung und bei vielen Panik ausgelöst – weshalb die einen so weiterleben, als wäre nichts geschehen, und die anderen palettenweise Nudeln und Klopapier bunkern. Beide Verhaltensweisen aber zeigen: Wir haben verlernt, mit dem Tod umzugehen. Vor lauter Jugendwahn haben wir vergessen, dass es eine Welt jenseits von Ü40-Partys, Erlebnisreisen und Anti-Aging-Cremes gibt. Bitter, dass uns ein Virus daran erinnern muss. Früher hätte dies Oma getan.

Frank Jöricke

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