Weihnachten wie in Hollywood

NEW YORK. Eigentlich sollte es eine Parodie auf alle Weihnachtslieder dieser Welt werden. Aber das Publikum nahm den Song ernst und machte Irving Berlins "White Christmas" zum populärsten Festtagsschlager aller Zeiten.

Am Anfang stand eine "Zwei Jungs-und-ein-Mädchen"-Klamotte, wie Irving Berlin am 17. April 1941 notierte - eine Geschichte, in der so viele Feiertage wie möglich untergebracht werden sollten. Der Film trug den Titel "Holiday Inn" und konnte mit Bing Crosby als Hauptdarsteller punkten, dem berühmtesten Schnulzensänger der 30er- und 40er-Jahre. Irving Berlin (1888-1989) war der patriotischste Einwanderer, der jemals in Amerika berühmt wurde. 1893, da hieß er noch Israel Baline, war er mit den Eltern auf Ellis Island vor New York gelandet. Weil ihm die neue Heimat die Chance bot, vom bitterarmen Schlucker zum Multimillionär zu werden, war er dem Land Zeit seines Lebens in flammender Dankbarkeit ergeben. Zahlreiche US-anbiedernde Shows und Songs künden davon. Einige dieser Liebeserklärungen baute er auch in die Partitur für "Holiday Inn" ein, etwa ein Loblied zu Washingtons Geburtstag und den "Song of Freedom", beide längst zu Recht auf dem Müllhaufen der Trivialitäten entsorgt. Während ihm die Schlager für die nationalen Feiertage nur so aus der Feder flossen, hatte er mit Weihnachten einige Schwierigkeiten. Unter der heißen Sonne Hollywoods jedenfalls wollte ihm nichts Frostklirrendes einfallen. Es soll, so will es die Legende, an einem Januar-Tag des Jahres 1941 gewesen sein, als er frühmorgens in sein New Yorker Büro am Broadway 799 stürmte und den noch schlaftrunkenen Mitarbeitern verkündete, dass er in der Nacht (Berlin litt zeitlebens an Schlaflosigkeit) nicht nur seinen besten, sondern den besten Song aller Zeiten geschrieben habe, eben jenes "White Christmas". Ein paar Wochen später war man in Hollywood nicht ganz so angetan von der Nachtarbeit wie der Schöpfer selber. Berlin hatte nie Klavierunterricht gehabt und konnte daher nur miserabel klimpern. Entsprechend ratlos waren seine Zuhörer, vor allem sein Arrangeur Walter Scharf, der keine Ahnung hatte, wie er aus dem musikalischen Gestammel einen vernünftigen Song fertigen sollte. Nach mehreren Anläufen hörte der Arrangeur jedoch, wie es Jody Rosen in seinem Buch über die Entstehung des Weihnachtslieds schrieb, "eine volkstümliche Schlichtheit" aus der Melodie und schlug ein ebenso schlichtes Arrangement, bestehend aus Gitarre und Kontrabass, vor. Das jedoch war Berlin zu karg, und nach zahlreichen Sitzungen kam endlich jene Version heraus, die Bing Crosby zum Welterfolg führte: vibratoreiche Violinen, trillernde Holzbläser und ein nachhallender Chor, dazu des Sängers samtweicher Bariton. Es dürfte nur wenige Menschen auf der Welt geben, die diese Version nicht kennen. Das Lied, dessen Melodie überwiegend auf Sekundschritten basiert und damit nur begrenzte Anforderungen an sängerische Fähigkeiten stellt, quillt mithin sogar weitgehend unmusikalischen Menschen einigermaßen notengetreu aus dem Kehlkopf. Aber nicht das begründete seinen ungeheuerlichen Erfolg. Der ist zu einem großen, wenn nicht zum größten, Teil den Zeitumständen zu verdanken. Wie immer in Krisenzeiten - und 1942, das erste Weltkriegsjahr für die USA, war für Amerika gewiss eine solche - besinnt der Mensch sich auf seine Wurzeln, und Lieder über Heimat, Kindheit, die gute alte Zeit und verklärtes Glück haben Hochkonjunktur. Genau das aber ist "White Christmas" - nicht nur die erfolgreichste, sondern auch die größte Schnulze aller Zeiten. Allerdings eben so genial gestrickt in ihrer minutiös konstruierten Einfachheit, dass sich selbst die abgebrühtesten Zyniker dem Schmelz und Schmalz der Schmonzette mit ihrer gefühlsseligen Reizharmonik nicht entziehen können. Für die heimwehkranken GIs wurde der Song sozusagen zur "Lili Marlen", zu dessen Klängen sie in europäischen Schützengräben von ihren Familien in Kentucky, Alabama, Montana und auch New York träumten. Denn auch dies ist ein Kriterium von"White Christmas": Anders als etwa die Songs von George Gershwin oder Cole Porter, die typische "Großstadt-Kompositionen" sind, ist Berlins Weihnachtslied gleichermaßen provinz- und metropolen-kompatibel. Von der weißen Weihnacht und der damit verbundenen Besinnlichkeit lässt sich im hektischen New York schließlich ebenso gut träumen wie im verschnarchten Peoria, Arizona. Hätte Berlin nur diesen einen Song geschrieben, es hätte gereicht, ein sehr komfortables Le- ben zu führen - selbst bei seinem, das extrem lange währte. 16 Mal erklomm allein die Ori- ginal-Version von Bing Crosby, die weltweit mehr als 31 Millionen Mal verkauft wurde, den ersten Platz der Hitparaden. Jeder namhafte Künstler von Frank Sinatra über Charlie Parker und Bob Dylan bis zu U2 hat es auf Platte aufgenommen; selbst die Toten Hosen haben sich an ihm vergangen. "White Christmas" wurde zur nie versiegenden Geldquelle eines Komponisten, der keine Noten lesen konnte, dem Harmonien zeitlebens ein Rätsel blieben - und der sich dennoch in die Herzen der Amerikaner geklimpert hat. Als er einmal gefragt wurde, wie ein Angehöriger des jüdischen Glaubens ein christliches Weihnachtslied habe schreiben können, das außerdem alle Rekorde schlug, antwortete Irving Berlin schlicht: "Ich habe es als Amerikaner geschrieben." Jody Roden: "White Christmas. Ein Song erobert die Welt", aus dem Amerikanischen von G. Schermer-Rauwolf und R. A. Weiß, Blessing Verlag München, 220 Seiten, 18 Euro.

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