Wenn Unschuld zu Erfahrung wird

LUXEMBURG. Eine lebende Legende zu Besuch in der Philharmonie: Marianne Faithfull kam, sah und faszinierte mit einem außerordentlich konzentrierten, auf das Wesentliche reduzierten Konzert.

Es ist der Moment, in dem diese Frau mit dem blassen Teint unter dem auftoupierten graublonden Pony den Mund aufmacht. Nicht die fast ungelenk wirkenden Bühnen-Bewegungen auf hohen Pfennig-Absätzen. Nicht die charismatische Präsenz, die jede Wendung der gebrochenen Biografie widerspiegelt. Nicht die Ehrfurcht vor einem personifizierten Stück Rock-Geschichte. Und auch nicht der Respekt vor der großen Schauspielerin. Nein, so wie diese Stimme klingt, würde man auch gebannt stehen bleiben, wenn Marianne Faithfull Straßensängerin wäre. Das ist keine wohlig-kratzige Reibeisen-Röhre wie bei Joe Cocker. Die Faithfull ist nicht pop-tauglich, auch wenn sie ein paar Hits produziert hat. Dafür ist sie zu spröde, diese heisere Stimme, die sich aus den tiefsten Tiefen der Kehle fast schmerzhaft an die Oberfläche presst und jeder Phrase, die sie singt, ein Stück Melancholie verleiht. Traumhaft sichere Weltklasse-Band

Es war diese Stimme, die etwa aus dem "Dr. Hoo & the Medicine-Show"-Schlagerchen "Ballad of Lucy Jordan" eine Preziose für die musikalische Ewigkeit gemacht hat. Diese Stimme steht auch in der Philharmonie ganz im Mittelpunkt. Die Weltklasse-Band (Barry Reynolds, Gitarre; Joe Cang, Perkussion; Daniel Mintseris, Keyboards) wandelt traumhaft sicher auf den Pfaden zwischen Rock, Country, Blues und Chanson, bleibt aber immer reduziert auf das Wesentliche. Sehnsüchtige Mundharmonika-Harmonien bei "Without Blame", schräge Moll-Tonarten bei "No Child of Mine", Bottleneck-Künste bei "Spike Drivers Blues", treibende Hard-Rock-Gitarren bei "Times Square": jedes Lied ein kleines, eigenes Kunstwerk, eine neue Stimmung. Marianne Faithfull ist eine brillante Geschichten-Erzählerin. Von der Fragilität der Liebe ("Crazy Love"), aber auch von der Angstlosigkeit, die sie verleiht ("Marathon Kiss"), von Exzessen aller Art ("Why d'ya do It"), von Ängsten und Hoffnungen. Man könnte ihr stundenlang zuhören, wäre da nicht die Angst, ihre Stimmbänder könnten die wachsende Intensität irgendwann nicht mehr aushalten und reißen. Grandiose Werkschau über 40 Jahre Musikgeschichte

Zwischen den Liedern beschränkt sie sich auf kleine, fast verlegen wirkende Ansagen. Keine Schau, keine Selbstdarstellung. Bevor sie anfängt zu singen, zieht sie kurz die Lesebrille auf und schaut noch mal auf den Text. Sie darf das. Sie darf auch tassenweise Cappuccino trinken, zu den Zugaben die High Heels gegen flache Treter austauschen und sich über die eigene "verdammte Eitelkeit" lustig machen. Dass sie gerade eine schwere Krebs-Erkrankung überstanden hat, ist ihr nur eine winzige Erwähnung wert. "Ich bin froh, wieder Musik machen zu dürfen." Das Publikum versteht auch so. Und wenn mal ein paar Ahnungslose im Saal partout nicht verstehen wollen und bei "Ballad of Lucy Jordan" mitklatschen müssen, dann schiebt sie ein paar Tempowechsel ein. Die "Lieder von Unschuld und Erfahrung", wie sie das Programm überschrieben hat, sind eine grandiose Werkschau über 40 Jahre Musik- und Zeitgeschichte. Von "As Tears go by" bis zu den (autobiografischen?) "Vagabond Ways". Ohne billige Nostalgie. Von zeitlos spröder Schönheit. Am Ende Standing Ovations in der Philharmonie. Was sonst.

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